Den meisten Hochsensiblen wurden nicht nur diverse Ängste angeboren, die sie bewältigen müssen, sondern auch noch ein Hang zum Perfektionismus. Hier kommt wieder die Bauplan-Theorie ins Spiel. Wir erkennen instinktiv sowohl die Wahrheit als auch die optimale Form der Dinge. Egal ob es sich dabei um alltägliche Gegenstände, Kunstwerke, Beziehungen, Leistungen oder Vorstellungen geht. Wir sehen, wie sie beschaffen sein sollten und orientieren uns am Besten, das erreichbar wäre.
Da wir es erkannt haben, denken wir, dass es auch so umgesetzt werden muss. Wir missachten dabei, dass in dieser Welt nichts perfekt ist. Keine Partnerschaft ist so, wie sie sein sollte, kein Gegenstand erlangt seine optimale Form oder Funktionsweise, kein Kunstwerk ist ohne Fehler, keine Leistung und keine Vorstellung erreicht ihr Optimum, wir können niemals alle unsere Fehler beseitigen. Auch und gerade nicht in der Selbstentwicklung.
Durch den Perfektionismus schaden wir uns nur selbst. Wir streben nach Unerreichbarem.
Oft sehen wir das Perfekte als Bild vor unserem geistigen Auge und wissen bereits, dass wir es so nicht erreichen können. Dann gibt es wie so oft zwei Möglichkeiten. Die erste Option ist die Aufgabe. Wir gehen erst gar nicht daran, unsere Vorstellung umzusetzen. Wir wissen, dass wir niemals so genau arbeiten können. Wir wissen, dass wir niemals die Mittel haben werden, dieses Ziel zu erreichen. Das ist auch kein Wunder, da das Ziel nicht erreichbar ist. Wenn ich die Idee für ein wundervolles Lied habe und es gerade noch vermag, es in ein Aufnahmegerät zu summen, jedoch kein Instrument spielen kann, dann lass ich es lieber gleich. Anstatt zu beginnen, ein Instrument zu lernen und mich nach und nach an die Melodie heran zu arbeiten, verwerfe ich die Idee gleich wieder. Ich lasse mich von meiner Perfektion davon abhalten, ein Instrument zu lernen, damit ich vielleicht irgendwann einmal diese wundervollen Klänge zumindest annähernd ähnlich aus meinem Kopf in die Welt transportieren kann. Durch den Perfektionismus lassen wir uns nur allzu häufig von den Dingen abbringen, die wir gerne tun würden.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, bis zur Erschöpfung einen unmöglichen Aufwand zur Perfektionierung unserer Fähigkeiten zu betreiben. In der Hoffnung, das ultimative Lied doch noch spielen zu können. Ich beginne, das Spiel auf der Gitarre zu lernen, aber es ist hoffnungslos, da ich nicht die Erfolge erziele, die ich mir vorstelle. Anstatt mich nun mit den langsamen Fortschritten abzugeben und einfach Freude am Lernen und Spielen zu empfinden, bin ich immerzu frustriert, weil ich meinem Ziel nicht adäquat näherkomme. Anstatt die Lieder, die ich auf dem Weg zu meinem einzigartigen Lied spiele zu lieben, konzentriere ich mich nur darauf, wie schlecht ich bin. Andere Menschen können mir ruhig sagen, wie toll sie die anderen Lieder finden, die auf dem Weg entstehen. Doch es ist nicht das, was ich will. Ich werde sogar noch ungehalten gegenüber den Menschen, die meine Lieder mögen. Wenn ich feststelle, dass die Gitarre nicht das richtige Instrument ist, das meine Musik ausdrücken kann, lerne ich noch Klavier, Geige und Trompete. Dann meistere ich die Kunst des Komponierens und werde zudem noch Dirigent eines Orchesters. Doch auch so kann ich einfach nicht haargenau die Noten aufschreiben, die mir vorschweben. Zudem spielen immer wieder Menschen in meinem Orchester nicht so, wie ich es mir vorstelle. Die Schraube dreht sich immer weiter nach oben, bis mir die Energie ausgeht und ich nicht mehr fähig bin, mein Ziel zu verfolgen.
Das ist ein großes Beispiel, verdeutlicht aber die Tragweite von Perfektionismus. Es gab große Künstler, die von diesem Gedanken getragen, wundervolle Kunstwerke geschaffen haben, jedoch nie das eine perfekte, das sie erschaffen wollten.
Perfektionismus ist nicht unser Freund, ganz im Gegenteil. Es ist eine Eigenschaft, die wir schnell loslassen sollten. Er hindert uns in jedweder Ausprägung daran, dass wir die Dinge tun, die uns wirklich liegen und derer wir uns annehmen wollen.
An dieser Stelle möchte ich einmal das Pareto-Prinzip vorstellen: Vilfredo Pareto hat festgestellt, dass 80 % des Ergebnisses mit 20 % des maximalen Aufwands erreicht werden können. Die restlichen 20 % bedürfen 80 % des Aufwands. Dies verhält sich progressiv: je näher man an das Ergebnis heranreicht, desto ungleich höher wird der Aufwand. Also um 90 % zu erreichen, benötigt es 50 % Aufwand. 95 % Erfolg kosten 85 % Aufwand usw. Um 100 % zu erreichen, steigt der Aufwand ins Unermessliche und wird unerreichbar. Bevor du die 100 % erreichst, wirst du an dem Versuch zu Grunde gehen. Es ist also nicht machbar. Ersetzen wir das Wort Aufwand durch Energie. Dann wird offenbar, warum wir uns oft so energielos fühlen, wenn wir einer Sache nachhängen, die wir perfekt lösen wollen. Die Menschen um uns herum sind jedoch allzeit mit 50 bis 80 % unserer Leistung zufrieden. Du darfst nicht vergessen, dass wir in gleicher Zeit mehr leisten als Normalsensible und unsere 100 % ungefähr 200 % der Leistung in derselben Zeit eines Normalsensiblen entspricht. Bevor sich jemand herabgesetzt fühlt oder als jemand Besseres, muss ich gleich hinzufügen, dass wir natürlich längere Ruhepausen benötigen. Wenn man nun die Zeit der Tätigkeiten und Ruhepausen mit Normalsensiblen gleichsetzt, kommt in etwa dieselbe Gesamtleistung heraus. Unser Leistungsanspruch an uns selbst bleibt jedoch bei diesen 200 %. Deswegen sind unsere 80 % meistens mehr, als die Menschen von uns erwarten. Selbst 60 % würden in den allermeisten Fällen genügen. Mit der Reduzierung der Ansprüche an uns selbst gewinnen wir also nicht nur 80 % Energie, sondern auch noch 80 % Zeit, die wir für andere Dinge verwenden können. Zum Beispiel für Liebe und Erholung.
Wer es nicht schafft, seinen Perfektionismus loszulassen, wird sich immer selbst im Weg stehen und behindern oder sich davon abhalten etwas zu beginnen. Schlimmstenfalls begibt man sich in einen Kreislauf der Besessenheit, der in psychischen Störungen bis hin zum Wahnsinn oder in schweren körperlichen Krankheiten enden kann.
Das Loslassen folgt hier demselben Prinzip wie bei Angst und Materiellem. Genau hinschauen, sich selbst eingestehen, wie sinnlos das Streben nach Perfektion ist, und akzeptieren, dass weniger Einsatz und ein 80 % Ergebnis ausreichen. Du kannst nicht perfekt sein und du musst es auch nicht. Außer dir selbst erwartet es niemand von dir. Wenn doch, ist diese Person krankhaft perfektionistisch und du solltest überlegen, ob du ihr nachstreben möchtest.
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.