Im Normalfall ist unsere Wahrnehmung direkt an eine Bewertung mitsamt Schlussfolgerung gekoppelt. Wir sehen, hören, schmecken, riechen oder fühlen etwas und setzen dies direkt mit etwas in einen Zusammenhang, das unseren Erfahrungen entspricht.
Zum Beispiel hörst du nachts ein knarrendes Geräusch und bekommst direkt Angst, weil du es mit einer Tür aus einem Horrorfilm verbindest. Dabei war es nur die Gartenpforte, die im Wind hin und her schwingt. Oder du siehst in einer leeren Straße drei schwarz gekleidete, tätowierte Kerle auf dich zukommen und assoziierst sie sofort mit Schlägertypen. Als sie an dir vorbei gehen, lächeln sie dich freundlich an, weil sie zwar Metalfans, aber an sich harmlose Familienväter sind.
Genauso ergeht es uns mit gesprochenem Wort. Du hörst etwas und beginnst sofort damit, dem Gehörten einen Sinn zuzuordnen. Meistens beginnst du sogar schon damit, bevor der Sprecher ausgesprochen hat. Manche Menschen neigen dazu, bereits am Anfang des Gesagten auf den Schluss zu folgern und hören nicht mehr bis zum Ende zu. In allen Fällen kann es schnell zu Missverständnissen kommen. Denn oft stimmt das Verstandene nicht mit dem Gesprochenen überein. Da Gespräche im Normalfall im Verlauf wie eine Mauer Stein auf Stein aufbauen, sind Zuhörer und Sprecher schon nach wenigen Mauersteinen getrennt. Der Sinn des Gesagten stimmt nicht mehr überein mit dem Sinn des Verstandenen.
Dasselbe geschieht ebenfalls mit Handlungen. Handelt jemand so, dass es außerhalb der normalen Erfahrung mit dieser Person liegt, dann interpretieren wir gerne Gründe in die Handlung hinein. Oftmals natürlich die Verkehrten. Stell dir vor, ein guter Freund lädt alle im Freundeskreis zu einer Party ein. Er schickt allen eine Karte mit Datum und Uhrzeit. Nur du bekommst keine. Du erfährst es über eine Freundin zufällig, als du dich mit ihr auf einen Kaffee triffst. Jetzt gehen dir verschiedene Szenarien durch den Kopf, warum er dich nicht eingeladen hat. Womöglich wegen des Streits, den ihr letzten Monat hattet, obwohl der beigelegt war. Oder vielleicht hat er dich vergessen, was auch nicht besonders für eure Freundschaft spricht.
Alle Wahrnehmungen bergen die Gefahr, dass du eine positive oder neutrale Bedeutung in eine negative interpretierst.
Deswegen solltest du deine Wahrnehmung immer von der Bewertung trennen. Das ist ganz einfach. Lass eine Wahrnehmung für sich stehen. Du bekommst also keine Einladung. Die Wahrnehmung endet hier. Bevor du irgendwelche Schlussfolgerungen daraus ziehst, könntest du einfach nur mit deinem Freund sprechen, warum das so ist. In diesem Beispiel würde sich herausstellen, dass deine Einladung in der Post verloren ging.
In manchen Fällen können heftige Streits aus solchen Situationen erwachsen. Gerade wenn missinterpretierte Handlungen und Gespräche zusammen auftreten.
Als Beispiel nehmen wir ein Ehepaar, das einige Jahre verheiratet ist. Entgegen seiner normalen Angewohnheit schreibt er ihr an diesem Tag tagsüber keine Nachrichten per Messenger. Sonst schreibt er kurze Texte oder schickt nur einen Kuss-Smiley, immer wenn er an sie denkt. Spätnachmittags schreibt er dann, dass er noch etwas erledigen muss und deswegen später nach Hause kommt. Die Frau macht sich den ganzen Tag über Gedanken, was dieses Verhalten bedeuten könnte. Da unsere Gedankenkreise dazu neigen, eher negative Bahnen zu ziehen, denkt sie zunächst daran, dass ihm ja etwas Schlimmes zugestoßen sein könnte und er sie deswegen nicht kontaktieren konnte. Als seine kurze Nachricht eintrifft, dass er später kommt, denkt sie darüber nach, dass er sie nicht mehr liebt und sich am Spätnachmittag vielleicht mit einer anderen trifft. Als ihr Mann schließlich nach Hause kommt, ist sie mit negativen Gedanken beladen und macht ihm direkt Vorwürfe. Er versucht ihr zu erklären, was passiert ist, doch sie hört nur halb zu, da sie alles, was er sagt, in Richtung ihrer Vermutungen missinterpretiert. Schließlich wird es ihm zu viel und das Gespräch steigert sich zu einem ausgewachsenen Streit. Beide trennen sich voneinander und fühlen sich angegriffen und missverstanden. Sie wollte doch nur, dass er sich wie immer mit lieben Nachrichten über Tag meldet. Er hatte einfach einen stressigen Tag mit einem Meeting nach dem anderen und hat nach Feierabend noch ein Geburtstagsgeschenk für sie besorgt. Das will er ihr ja eigentlich nicht verraten.
Die Stimmung für diesen und vermutlich den Folgetag ist hinüber.
Wie kann man solche Situationen vermeiden? Ganz einfach: Die Wahrnehmung, dass er nicht geschrieben hat, einfach ohne Bewertung stehen lassen. Genauso die Ansage, dass er später nach Hause kommen wird. Wenn er dann zu Hause ist, kann sie ihn neutral drauf ansprechen, was denn los gewesen sei. Sie ist nicht aufgeregt, sondern kann ganz in Ruhe seiner Erklärung zuhören und sie unbeeinflusst verstehen.
Was aber, wenn man mitten im Streit bemerkt, dass die eigene Bewertung und Schlussfolgerung oder die des Partners falsch sein könnte? Man kann den Streit jederzeit einfach unterbrechen, indem man sagt: „Stopp, ich glaube, wir reden hier aneinander vorbei.“
Ein probates Mittel, die Situation aufzulösen, ist die Methode „auf den Berg steigen“. Dabei kann man sich wirklich erhöht setzen, zum Beispiel auf die Sofalehne. Dann schaut man gemeinsam neutral auf die Szene hinab, die sich gerade im Raum abgespielt hat und redet darüber.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, weil du nicht wie üblich geschrieben hast. Deswegen war ich so aufgebracht. Außerdem dachte ich, du liebst mich nicht mehr und triffst dich mit einer anderen“, könnte sie sagen.
Er antwortet vielleicht darauf: „Das kann ich verstehen, doch es waren einfach so viele Meetings heute, dass ich gar nicht mehr wusste, wo mir der Kopf stand. Außerdem war ich wegen einer Überraschung für dich unterwegs.“
So wird mit wenigen Sätzen die Situation ohne überbordende Emotionen aufgeklärt.
Die Trennung von Wahrnehmung und Bewertung hilft in vielen Situationen weiter. Dieser kurze Moment, in dem du dich davon abhältst, die Wahrnehmung sofort zu bewerten, kann dein ganzes Leben verändern.
Du lernst zum Beispiel eher Menschen kennen, von denen dich eine sofortige Bewertung ferngehalten hätte, wie Menschen mit anderer Hautfarbe oder Behinderungen, Menschen mit Tattoos oder Menschen, die bestimmte Kleidung tragen, Menschen, die sich nicht so artikulieren, wie du es gewohnt bist, die seltsam sprechen oder Sprachfehler haben, oder Menschen die nach Reichtum aussehen oder nach Armut, Menschen, die seltsam riechen oder in einer merkwürdigen Tonlage sprechen.
Sobald wir die Wahrnehmung von der Bewertung trennen, trennen wir uns womöglich auch von Vorurteilen.
<Dualität Kopf und Herz |
Sie befinden sich mitten im Buch. Starten Sie mit dem Lesen bitte am Anfang.
Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.