Im folgenden Kapitel versuche ich zu beschrieben, wie sich das Innenleben eines hochsensiblen im Vergleich zum normalsensiblen Menschen aussieht. Die meisten HSP geben an, ein lebhaftes Innenleben zu haben. Es geht mir dabei nicht darum, Normalsensiblen Oberflächlichkeit zu unterstellen und sie herabzusetzen. Jeder Mensch hat seine eigene Mischung aus Bedürfnissen, Fähigkeiten und Schwächen. Vielmehr möchte ich einen Umstand aufklären, der mir durch etliche HSP zugetragen wurde. Sie verstehen nicht, warum dieses lebhafte Innenleben so anders ist, als bei anderen und wie sich das auswirken kann. Die Tiefgründigkeit leitet sich von der Tatsache ab, dass sich HSP sehr gründlich und intensiv mit Themen auseinandersetzen, sie bis zu ihrem Grund verfolgen und ausloten. Des weiteren werden sie gerade von philosophischen, ethischen, psychologischen und spirituellen Themen angezogen, die die meisten Menschen eben kaum oder gar nicht interessieren. Die meisten Menschen interessieren sich eher für alltägliche Themen und hinterfragen ihre Umwelt nicht so detailliert, wie HSP. Trotzdem will ich dir keine Oberflächlichkeit unterstellen, denn die Tiefe des Innenlebens eines HSP birgt vielfältige Probleme und Konflikte.
Auch wenn einige Absätze für sie provokant klingen, bitte ich dich dies zu entschuldigen und für dich zu ignorieren. Dann betrifft es dich nicht.
Tagein tagaus begegnen wir Menschen, die uns ein wenig kennen. Wir haben das Gefühl, dass jeder Mensch einen anderen Teilaspekt von uns kennt, jedoch niemand das Ganze sieht. Sie nehmen nur eine Facette wahr. Vor allem die Menschen, die in tiefere Schichten vordringen wollen und können, sind rar gesät.
Mir sind etliche Menschen begegnet, die ich interessant fand, weil ich einen Teil ihrer Denkweise mochte. Ich dachte, sie müssten ebenso tiefgründig sein wie ich selbst. Doch nach sehr kurzer Zeit intensiven Kennenlernens stellte ich fest, dass keine tieferen Schichten mehr zu Tage traten. Die Schichten beschränkten sich meistens auf diese eine Richtung, die mich faszinierte. Damit meine ich, dass ich tiefer in die jeweiligen Themen einsteige, die mich interessieren und intensiver damit befasse. Bei den meisten Menschen stieß ich relativ schnell an das Ende ihres Gedankenganges zum jeweiligen Thema. Ebenso waren sie nicht an einem breiten Spektrum an Themen interessiert, wie ich und machten sich nicht so viel Gedanken um die Welt, wie sie funktioniert und warum alles so ist, wie es ist.
Als sie merkten, dass sie bei mir nur an der Oberfläche kratzten und sich darunter noch viel mehr verbarg, wurde ihnen zum Teil mulmig und sie achteten darauf, nicht mehr so tief zu stochern. Die Beziehung zu diesen Menschen war für meine Verhältnisse oberflächlich. Sie reagierten sogar oft beunruhigt. Bei ihnen war es so, dass es nur den Menschen mit einer oder zwei Seiten gibt.
Zum Beispiel:
- Daniel der Landwirt, der jedes Jahr nach Wacken fährt
- Julius, der Dachdecker, der bei der freiwilligen Feuerwehr ist
- Klaus, der Manager und Borussia-Fan
- Jessica, die Friseurin und Partygängerin
- Regina, die Bänkerin und Handballerin
- Stefanie, die Ladeninhaberin und Motorradfahrerin
Sie entwickelten sich bis zu einem Punkt und blieben ab da auf ihrem Status Quo stehen. Über Jahre und Jahrzehnte ändert sich bei ihnen nichts außer der Familienstand. Das ist nicht weiter tragisch. Der Unterschied liegt nur darin, dass HSP sich ihr ganzes Leben entwickeln und oft die Interessen wechseln, besonders in Phasen, in denen sie sich selbst hinterfragen. Den meisten HSP wird es irgendwann langweilig, sich weiterhin mit demselben Thema zu beschäftigen, das sie in voller Tiefe und Breite ausgelotet haben.
Bei uns ist es eher
- Markus, von Beruf IT-Spezialist, Fotograf, Gitarrist, Schriftsteller, Haussanierer, Gartenliebhaber, Koch, Weltverbesserer und Radfahrer
- Finja, von Beruf Stationsleitung im Altenheim, Weltenbummlerin, Geranienzüchterin, Klavierspielerin, Basketballerin, Opernliebhaberin, Kunstexpertin und Möbelschreinerin
Wenn man sich dann irgendwann sprunghaft ohne äußere Not verändert, ist das Normalsensiblen nicht ganz geheuer. In den meisten Fällen verändern sie ihren Status Quo nur, wenn ein äußerer Zwang auf sie ausgeübt wird.
Die Normalsensiblen, die nicht diesen besonderen Tiefgang besitzen, fühlen sich unwohl, weil sie uns nicht zur Gänze erfassen können. Sie sehen nur unsere oberflächliche Pfütze. Wenn sie ein wenig darin herumstochern, finden sie keinen Boden, an dem sie aufhört. Es geht immer weiter in die Tiefe. Doch wenn es kein für sie spürbares Ende gibt, dann wissen sie nicht, was sie in der Tiefe noch erwartet. Ein altes Seefahrer-Sprichwort lautet: In der Tiefe der See lauern Gefahr und Tod. Dieses Gefühl tritt bei jenen Menschen uns gegenüber auf. Jemanden, den man nicht hundertprozentig einschätzen kann, der ist unheimlich, dem kann man nicht ganz vertrauen. Dazu kommt, dass Hochsensible meist stiller werden, wenn sie bemerken, dass ihre Gesprächspartner sie nicht verstehen. Dieses Schweigen ist aber jedem Menschen unheimlich. Je weniger man über einen Menschen weiß, desto größer ist die weiße Leinwand, auf die man etwas projizieren kann. Dies sind meistens eigene Eigenschaften oder Erfahrungen mit anderen Menschen, die dem Hochsensiblen in irgendeiner Art ähneln. Zudem tendieren wir Menschen immer dazu, erst einmal schlechte Eigenschaften in andere zu projizieren, damit wir nicht von ihnen enttäuscht werden können.
Nehmen wir an, du bist ein sehr stiller Typ und ähnelst vom Äußeren einem Menschen, mit dem ich schlechte Erfahrungen gemacht habe. Dann projiziere ich so lange unbewusst dessen Eigenschaften auf dich, bis du mir durch Gespräche und Informationen über dich beweist, dass du ein ganz anderer Typ bist. Auch wenn du einiges Positives von dir Preis gibst und einen netten Eindruck hinterlässt, kann dir noch folgendes passieren.
Aus der Sicht des nicht so tiefgängigen Menschen:
Zunächst verstehe ich viele Dinge nicht, die der andere sagt und es kommt zu Missverständnissen. Wenn es um immaterielle oder gar spirituelle Dinge geht, widersprechen die Einsichten sogar denen, die ich gelernt und nicht weiter hinterfragt habe. Mit der Zeit kommt bei mir der Verdacht auf, dass der andere, sich für etwas Besseres hält, weil er viel mehr weiß oder an mehr glaubt. Er gibt damit an. Außerdem könnte in dem Teil der Tiefe, den ich nicht durchschauen und in den ich nicht hineinblicken kann, ein Massenmörder lauern, ein Vergewaltiger, ein Gewaltverbrecher, eine Giftmischerin oder sonstige schlimme Monster. Also ziehe ich mich auf sicheres Terrain zurück und stochere nicht weiter herum. Wenn mein Gegenüber aus der Rolle fällt, in der ich ihn gerne sehen möchte, blocke ich instinktiv alles ab, was er sagt und wechsle das Thema schnell.
Aus unserer Sicht:
Ein interessanter Mensch taucht in meinem Leben auf. Ich lerne ihn binnen kurzer Zeit kennen. Meine besten Eigenschaften sind das Zuhören, Verstehen und Mich-in-andere-hineinversetzen-können (Empathie). Deswegen öffnen sich andere mir gegenüber flugs. Ich stelle ebenso schnell fest, dass die andere Person recht oberflächlich ist und nicht so tiefgründig, wie ich zunächst vermutete. Um sicherzugehen, zeige ich noch andere Seiten von mir. Der Andere wehrt diese Seiten ab und drängt mich dazu, mich so zu verhalten, wie er mich gerne haben möchte. Bin ich noch ziemlich am Anfang meiner Entwicklung, lasse ich das zu und verhalte mich wie gewünscht. Wenn ich älter bin, das Selbstvertrauen gewachsen ist und die Abgrenzung besser klappt, wende ich mich von diesen Menschen eher ab und ziehe meiner Wege oder lasse sie am Rande mitlaufen.
In früheren Stadien der Entwicklung neigen wir noch dazu, ab und an jemanden in die Tiefe zu zerren. Wir öffnen uns ihm ganz und zeigen ihm all unsere Seiten und Nuancen. Irgend jemand muss uns doch verstehen können. Damit stoßen wir ihn jedoch eher ab. Er denkt, dass er in unserem Ozean zu ertrinken droht, da er nicht alles erfassen kann. Der Mensch reagiert dann in Panik und versucht, so schnell als möglich von uns fortzukommen. Mir ist das ein paar Mal passiert, bevor ich es aufgab, mich jemandem ganz zu öffnen. Erstaunlich war dann der Zeitpunkt, an dem ich meine erste hochsensible Freundin traf, mit der ich offen über alles reden konnte und die viele Ansichten mit mir teilte und mich bis in die tiefsten Schichten verstand. Als dann vor Kurzem noch eine weitere Freundin auftauchte, die beinahe so tickt wie ich, war mein Wunsch in Erfüllung gegangen, dass endlich jemand mich voll und ganz nachvollziehen kann oder es zumindest versucht.
Insgeheim wünschen wir uns alle den Menschen, der seinen Kopf in die Pfütze steckt, den Ozean sieht, der sich darunter befindet, hineinspringt und mit Achtsamkeit die Wunder entdeckt, die sich dort verbergen. Die Gedanken, Ideen, Gefühlsvielfalt, den Witz, den Charme, die Verrücktheiten, die Güte und die Liebe, die uns innewohnt erkundet und sie für sich wahrnimmt. Doch so einen Menschen gibt es nicht oft. Die Einzigen, die uns nachvollziehen können, sind selbst hochsensibel, denn nur die haben einen ähnlichen Ozean in sich.
Für alle, die nun immer noch denken, wir wollen etwas Besseres sein:
Der tiefe Ozean hält tatsächlich viele dunkle Ecken bereit. Wir werden mit sehr vielen Ängsten geboren und aktiv konfrontiert, durchleben die tiefsten Geheimnisse unserer Seele und stellen uns unseren dunklen Seiten bewusst. (Manche verdrängen sie auch bewusst.) Einige Hochsensible verfallen darüber in Depressionen. Andere haben lebenslange Schuldgefühle, weil sie Dinge getan haben, die sie als viel schlimmer erachten, als sie in Wirklichkeit sind.
Wir müssen unsere dunkle Seite annehmen und lieben lernen, bevor wir glücklich werden können. Es ist nicht wirklich leicht, das zu tun. Wir müssen uns all unseren Ängsten stellen, die in diesem Ozean aufwarten, um unseren Frieden zu finden. Daran scheitern nicht wenige. Ihr Schicksal sind seelische Krankheiten bis hin zum Wahnsinn oder sie verfallen in Süchte, um den Ozean zu unterdrücken, um die Gefühls- und Seelenwelt abzutöten.
Oft hätte ich gerne mit jemandem getauscht, der sich weniger Gedanken um sein Leben, seine Umwelt und den tieferen Sinn macht und einfach vor sich hin lebt. Es ist also nur ein wirklicher Vorteil, wenn man nicht an den Herausforderungen zerbricht, die die Tiefen dieses Ozeans bereithalten. Allerdings ist es dann ein wunderbarer Ort, den ich nie mehr missen möchte.
<Effektivität | Die Macht ist mit dir> |
Sie befinden sich mitten im Buch. Starten Sie mit dem Lesen bitte am Anfang.
Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.