“Sag mal, sonst bist du doch auch nicht so unsensibel!”
“Sag mal, hast du gar nicht gesehen, dass ich eine neue Frisur habe?”
“Sag mal, hast du gar nicht bemerkt, dass der Wohnzimmertisch neu ist?”
“Sag mal, hast du gar nicht mitbekommen, dass ich heute schlecht drauf bin?”
“Normalerweise bekommst du doch sonst alles mit. Ich glaube so Hochsensibel bist du gar nicht!”
Solche Widersprüchlichkeiten zu Eigenschaften, die uns HSP mitgegeben wurden, fallen dann und wann unseren Mitmenschen auf. Vielleicht zweifeln Sie nicht gleich an unserem grundsätzlichen Wesen, aber für den Moment sicher an der Fähigkeit, die nicht so funktioniert, wie gewohnt.
Zuerst einmal muss ich dazu anmerken, dass wir keine Automaten und Maschinen oder Roboter sind. Wir funktionieren an verschiedenen Tagen mal besser und mal schlechter. Dies kann – muss aber nicht unbedingt – an einer akuten Überreizung liegen. Manchmal wurden wir im Vorfeld ungerecht behandelt, sodass wir entweder noch über diesen Vorfall nachgrübeln und ihn verarbeiten oder wir denken einfach: “Ihr könnt mich heute alle mal!” Dabei gehen wir in einen Trotzmodus, der den Rest des Tages anhalten kann. Es kann aber auch sein, dass wir nach einer längeren Anfahrt zu Freunden oder in den Urlaub einfach noch nicht angekommen sind. Oder dass die Person oder der Raum sich in so vielen Punkten verändert hat, dass wir noch bei anderen Details hängen. Dein Gegenüber meint vielleicht nur, dass sich seine Haare verändert haben, doch du nimmst auch seine veränderte Haltung, die gedrückte Stimmung eines ansonsten gut Gelaunten und den neuen Ring am Finger oder die neue Uhr am Handgelenk wahr. Oder du bemerkst, wie viele Fältchen in seinem Gesicht dazugekommen sind und dass er ein neues Parfum benutzt. Bevor du überhaupt zum Haar kommst, musst du erst mal alle anderen Eindrücke verarbeiten.
Genauso gut kann es sein, dass du so im Stress bist oder dass dein Anliegen, dir so wichtig ist, dass du ganz auf das vor dir liegende Gespräch fokussiert bist. Du bleibst so sehr bei dir, dass dir zwar aufgefallen ist, dass sich etwas verändert hat, du aber nicht spezifizieren kannst, was es genau ist. Deine Gedanken drehen sich nur um dein Anliegen, da hat eine Frisur oder eine neue Couch keinen Platz.
Die Sensibilität und deine Empathiefähigkeit können in hitzigen Diskussionen oder während eines Streits unterdrückt werden. Die Energie, die auf dich einstürmt, wenn eine Diskussion hitzig wird oder ein Streit aufkommt, beschäftigen dich sehr. Du bist im Kopf meistens schon ein oder zwei Argumente voraus oder versuchst dich angestrengt an Details von Informationen zu erinnern. Auch in Diskussionen und Streits möchten wir alles richtig erzählen und hängen uns an Kleinigkeiten auf, die nur marginal mit dem eigentlichen Thema zu tun haben. Gerade Normalsensiblen gegenüber sind wir damit im Nachteil, da sie sich nicht mit den Kleinigkeiten abgeben. Womöglich feuern sie einfach Wortsalven ab, von denen wir innerlich erst mal prüfen, ob sie valide Informationen enthalten, also richtig sind, oder ob sie etwas behaupten, das so gar nicht stimmt. Während wir dies prüfen sind sie vielleicht sogar schon beim nächsten Thema oder Angriff. In solchen Momenten kann es schnell passieren, dass die Empathieantennen eingefahren werden und unsere Sensibilität ausfällt. Wir sind einfach zu beschäftigt mit anderen Dingen.
Also stehen diese Gelegenheiten nicht entgegengesetzt zu unseren Fähigkeiten und Besonderheiten, sondern sind ein Teil davon. Sie gliedern sich nahtlos in unser Wesen ein. Wenn man das weiß, kann man seinen Gegenüber darüber aufklären, dass wir im Moment nicht normal funktionieren, aber das an beiden Parteien liegt.
Eine andere Widersprüchlichkeit zum „normalen“ Hochsensiblen sind die HSP Scannerpersönlichkeiten. Zu denen auch ich im Übrigen gehöre. Die meisten HSP gewöhnen sich nur langsam an neue Dinge und mögen einen steten Rhythmus. Wiederkehrende Termine, gleiche Tätigkeitsabläufe und das Vertiefen in ein Thema, bis man ein absoluter Spezialist ist, sind Dinge, die viele Hochsensible gemeinsam haben und mit Aspergern teilen.
Nun gibt es allerdings auch unter den Hochsensiblen Personen so genannte Scannerpersönlichkeiten. Einfach geschildert sind dies vielseitig interessierte Menschen, die sich mit mehreren Themen gleichzeitig oder mit vielen verschiedenen Themen nacheinander befassen. Sie lernen in einem Feld so viel, bis ihr Interesse erlischt oder sie denken, dass das Wissen für sie ausreicht. Sie benötigen häufig neue Eindrücke. Sie reisen mitunter gerne, um neue Gegenden und Menschen kennen zu lernen. Sie wechseln häufiger ihre Freunde oder Freundeskreise, weil die Menschen ihnen langweilig geworden sind. Das hört sich jetzt schlimm an, doch meistens passiert dies, indem sie sich schnell in eine andere Richtung weiterentwickeln und die Freunde keine gleichartigen Interessen mehr mit Ihnen teilen. Man verliert sich meist einfach aus den Augen.
HSP Scannerpersönlichkeiten sind nicht automatisch unruhig oder ruhelos. Einige sammeln sich im Laufe der Zeit eine Bibliothek zusammen, surfen hauptsächlich auf Wissenseiten im Internet, oder schauen vornehmlich Dokumentationsfilme und ‑serien, um sich weiterzubilden – allerdings zu den verschiedensten Themen im Laufe ihres Lebens. Das ganze machen sie in Ihren vier Wänden in Ruhe.
Eine Scannerpersönlichkeit ist ein Hans Dampf in vielen Gassen und kein absoluter Spezialist auf einem Gebiet.
Eine dritte Form der Widersprüchlichkeiten tritt auf, wenn HSP auch gleichzeitig High Sensation Seeker sind. Die HSS suchen fortwährend nach neuen Kicks. Hier geht es nicht so sehr um Wissensanhäufung, sondern um körperliche, geistige, spirituelle oder energetische Höchstleistungen.
Zum Beispiel: ein HSP mit ständig wechselnden Sexualpartnern und sich steigernden Sexualpraktiken, eine Akrobatin, die immer schwierigere Kunststücke lernt, um ihren Körper immer neu zu fordern, eine Reisende, die in immer entlegenere Gebiete fliegt, um sich den Gegebenheiten anzupassen und ohne viele Hilfsmittel zu überleben. Dann gibt es natürlich noch die Extremsportler, Drogensüchtigen, Spielsüchtigen, usw., die immerzu die Dosierung erhöhen müssen, damit sie den nächsten Kick erreichen.
Natürlich gibt es auch HSS in nicht ganz so gewagten Szenarien. Ein Whiskykenner, der nach immer teureren und älteren Sorten strebt, um sich geschmackliche Kicks zu holen, ein Gourmet, der immer ausgefallenere und neue Geschmäcke sucht, um seinen Sucht nach Kicks zu befriedigen, eine Achterbahnliebhaberin, die zu immer größeren, schnelleren und längeren Achterbahnen reist, um die Kicks zu erhöhen.
Spirituell gibt es HSS, die immer länger fasten und meditieren, sich ganz und gar von der Welt entfernen, um Transzendenz und spirituelle Erleuchtung zu erlangen und dabei ebenfalls immer den nächsten Kick suchen.
Wenn man am oberen Ende der Fahnenstange seiner Möglichkeiten angekommen ist, wird auch mal die Tätigkeit oder Vorliebe gewechselt, um neue Höhepunkte zu erleben. HSS wirken oft getrieben und unstet, da sie sich immer nach dem nächsten Mal sehnen oder dies bereits im Kopf haben, dass sie ihren neuen Höhepunkt erreichen. (Das ist meine Vermutung resultierend aus meinen Beobachtungen und Erfahrungen. Berichte von Betroffenen würden mich sehr interessieren.)
Die Wiedersprüchlichkeiten zu “normalen” HSP bestehen in dem eingehen größerer Risiken, was einem HSP eigentlich fremd ist. Hochsensible haben, wie bereits erwähnt, ein großes Sicherheitsbedürfnis.
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.