Da wir uns nun ein wenig besser kennen, wechsle ich ab hier zum du. Ich hoffe, das ist dir recht. Die Dinge, die wir teilen lassen sich angenehmer und direkter beim Duzen besprechen. Die Ansprache schafft die notwendige Intimität, die mir in den folgenden Kapiteln notwendig scheint. Dieses Buch habe ich nicht nicht geschrieben, um Geld damit zu verdienen. Es entstand allein aus dem Antrieb heraus, meine Erkenntnisse zu teilen. Deswegen habe ich es nicht nötig, einen respektvollen Abstand zu dir zu wahren, wie es in anderen Sachbüchern gehandhabt wird. Ich stelle mir sowieso lieber vor, dass du mein Buch gemütlich an deinem Lieblingsplatz bei einem leckeren Getränk und Knabbereien liest. Also meine Liebe oder mein Lieber: Ich bin Markus.
Ist dir schon einmal aufgefallen, dass viele Erwachsene um dich herum durch die Welt gehen, ohne nach links und rechts zu schauen? »Sie nehmen die kleinen Wunder dieser Welt nicht so wahr, wie ich«, hast du dann sicher gedacht. Oder: »Sie haben verlernt, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.«
Als Kind war das anders. Da wurde alles Neue und Unbekannte erst einmal mit großen Augen betrachtet, um alle Eigenschaften und Bewegungen in sich aufzusaugen. wir standen zu dritt um einen kleinen Frosch herum und fragten uns, wie dessen Leben wohl verlief. Wir fassten alles an, um die Strukturen der Oberflächen und die Konsistenzen zu prüfen. Manchmal prüften wir auch den Geschmack und nicht nur bei wohlschmeckenden Lebensmitteln. Wir staunten über Regenbögen, weil wir sie für pure Magie hielten. Ein verschlungener Pfad durch eine Hecke oder ein Gehölz konnte in ein Märchenland führen. Das Meer war unfassbar groß. Dahinter musste eine ganz andere Welt liegen. Wir wussten nicht so viel wie heute, deshalb fanden wir viele Dinge magisch. Irgendwann hörte es bei deinen Freunden auf. Der Frosch war nicht mehr interessant, über das Meer flogen sie nach Thailand, Japan, Hawaii oder New York und der Regenbogen war ein Phänomen der Lichtbrechung. Sie verloren ihr Staunen.
Du aber nicht. (Wenn doch, sieh zu, dass du es schleunigst in dir wiederfindest!) Du stehst immer noch mit offenem Mund da, wenn schöne Dinge deinen Weg kreuzen, und fragst dich, wie so etwas Tolles das Leben der anderen unberührt lassen kann. Warum sie es bloß nicht sehen und fühlen können.
Staunen ist eine wichtige Voraussetzung für die Fantasie und Kreativität in uns und energetisch bereichernd. Während dieser Momente gewinnst du auf einen Schlag eine Menge Energie, da du dein Herz öffnest. Du saugst alles in dich auf, wie ein Schwamm. Wir halten diese Augenblicke in uns fest, wenn der Sturm uns ins Gesicht schlägt, wir am Meer spazieren gehen und uns klein und unbedeutend fühlen. Wir bewundern die Stärke und Kraft, die pure Luft annehmen kann. Wenn das unsichtbare Medium uns entgegensteht wie eine Betonmauer, wir keinen Schritt mehr vorwärtskommen und kaum noch atmen können. Wenn es uns buchstäblich die Luft verschlägt. So etwas hast du noch nicht erlebt? Das glaube ich dir nicht. Der Sonnenuntergang, der brennt wie Feuer, eine wunderschöne Blume, deren Blüten so filigran sind, dass man sich fragt, wie die Natur so etwas erschaffen kann. Ein Tier, das deine Aufmerksam komplett in seinen Bann zieht und mit dem du dich innig verbunden fühlst. Ein Kunstwerk, das von Menschen geschaffen wurde, die wahrhaft inspiriert waren. Etwas, das du selbst erschaffst und gar nicht wirklich weißt, wie du so etwas Schönes hervorbringen konntest.
Dieses Staunen beinhaltet nicht nur Bewunderung, sondern auch Liebe, die zu diesen Erlebnissen entsteht. Ebenso ein tiefes Gefühl der Sehnsucht danach, diesen Zustand wieder zu erleben, wenn er vorüber ist. Wenn es eins in dieser Welt braucht, ist es Liebe.
Deswegen ist dieses wunderbare Geschenk, das dir zuteilwurde – die Fähigkeit, dein ganzes Leben lang zu staunen, – eine wirklich mächtige Gabe. Sie ermöglicht es dir, die schönen Dinge denjenigen zu zeigen, die das Staunen verlernt haben. Du hast die Möglichkeit, sie darauf hinzuweisen. In Ton, Wort, Schrift, Bild, gekocht oder gebacken. Egal wie du es machst, tu es einfach. Zeige den Menschen um dich herum, was dich zum Staunen bringt. Du wirst bestimmt erleben, dass der eine oder andere den Kopf schüttelt und nicht nachvollziehen kann, was du meinst. Doch manchmal wird jemandes Leben durch diesen Hinweis sich verändern. Villeicht nur eine Zeit lang, vielleicht nachhaltig. Es lohnt sich in jedem Fall.
Wir haben die Möglichkeit, das Leben unserer Mitmenschen zu verschönern und ihnen Freude zu bereiten. Diese Möglichkeit sollten wir so oft nutzen, wie es uns möglich ist.
Ich erlebe es oft, dass meine Fotografien Menschen dazu anregen, innezuhalten und über das nachzudenken, was sie da sehen. Auch wenn sie nicht dasselbe Staunen erlebt haben, das ich in mir spürte, als ich sie angefertigt habe, erfreuen sie sich an ihnen und vergessen einen Moment lang ihre Sorgen.
Ein guter Freund von mir spielt so wunderschön Gitarre, dass alle Zuhörer sich darin verlieren können und die pure Schönheit der Klänge genießen.
Ich habe Bücher gelesen, die durch ihre bloße textliche Schönheit mein Leben verändert haben und mich inspirierten.
Es gibt Filme, nach denen man sich wie ein anderer Mensch fühlt. Manche Menschen werden durch erlebte Naturphänomene zu Umweltaktivisten oder Naturschützern.
Teile dein Staunen, um die Welt ein bisschen besser und schöner zu gestalten. Hilf anderen Menschen ebenso berührt zu werden, wie du berührt wirst. Traue dich aus dir Geschaffenes und deine Sichtweise in die Welt zu tragen. Du wirst dich wundern, wie viel positive Rückmeldungen du erhältst.
Alle großartigen Kunstwerke dieser Welt sind aus einem kleinen Funken Staunen entsprungen.
Um es mit Neil Gaimans Worten zu sagen:
»The one thing you have that nobody else has is you. Your voice, your mind, your story, your vision. So write and draw and build and play and dance and live as only you can. The moment that you feel that just possibly you are walking down the street naked … that’s the moment you may be starting to get it right.«
Frei übersetzt:
»Das eine, das du hast und niemand sonst hat, bist du. Deine Stimme, dein Geist, deine Geschichte, deine Vision. Also schreibe und male und baue und spiele und tanze und lebe so, wie nur du es kannst. Der Moment, in dem du dich fühlst, als würdest du nackt die Straße entlang gehen … das ist der Moment, in dem du beginnst, es richtig zu machen.«
― Neil Gaiman, Make Good Art
<Sensorik | Der WOW-Effekt> |
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.