Streits kannst du nicht gewinnen, weil du auch verlierst, wenn du gewinnst. Du fühlst für den Verlierer mit und sein Frust trifft dich.
Du befindest dich gerade in einer Situation, in der deine Meinung von der deines Gegenübers abweicht. Dir ist das Ziel, das du erreichen willst, enorm wichtig. Dein Gegenüber argumentiert immer vehementer und mit ansteigender Lautstärke, denn nach seiner Auffassung bekommt der Lautere mehr Gehör und somit schneller Recht.
Was passiert bei einem Streit genau? Du wirst zuerst mit einer Meinung konfrontiert, die anders ist, als deine eigene. Du entscheidest blitzschnell, ob es dir wichtig genug ist, deine Meinung zu vertreten und für sie zu kämpfen. Wenn du gegen den anderen hältst, baut sich nicht nur in dir, sondern auch in deinem Gegenüber innerliche Spannung auf. Ihr beide bereitet euch blitzschnell auf die Konfrontation vor. Wenn du noch nicht gelernt hast, dich schnell mit einem Energieschild oder einer Ritterrüstung zu schützen (siehe in den Kapiteln für äußere Abgrenzung) bist du offen für alle folgenden Eindrücke. Sowohl auf der physischen (Mimik, Gestik, Tonfall, Lautstärke), auf der emotionalen (Frust, Wut, Hass) als auch auf der energetischen (negative Energie) Ebene schlagen dir Wellen an Signalen entgegen, die du nicht nur aufnimmst, sondern im Nachgang nach dem Streit auch verarbeiten musst. Dazu kommen natürlich deine eigenen Emotionen, deine körperlichen Auswirkungen (Adrenalinschub, Hormonausschüttung, Fluchtreflex usw.), deine psychische Verfassung (Angst, Selbstvorwürfe, Schwächen) und deine eigene Energie, die du dem Gegner entgegenstellst.
Das bedeutet, dass du mehr als doppelt so viele Signale verarbeiten musst wie ein Normalsensibler. Seine Wahrnehmung filtert deine Ausdrücke heraus und verschiebt sie ins tiefe Unterbewusstsein oder lässt sie ganz verpuffen. Im Normalfall kommen nur die physischen (hörbaren, sichtbaren und riechbaren) Signale bei ihm unterbewusst oder halb bewusst an, wenn er nicht psychologisch in Sachen Kommunikation geschult ist.
Je länger der Streit dauert, desto mehr unangenehme Signale empfängst du und musst diese verarbeiten. Wenn du streiten nicht gelernt hast, wirst du schnell überfordert sein und befindest dich jenseits deiner Belastungsgrenze. Du wirst unsicherer, vergisst Argumente oder die richtigen Worte, um dich auszudrücken. Du kämpfst immer mehr mit deiner Wahrnehmung. Triffst du auf einen streitlustigen Menschen, der Streit zur Kultur erklärt hat, bist du noch schneller im Aus, ebenso bei einem sehr reizbaren Menschen, bei dem sofort Vernunft und Zurückhaltung hinter einem roten Tuch verschwinden. Deswegen streiten sich Hochsensible ungerne.
Du stehst nun also gerade an deiner ureigenen Grenze und sie wird bedroht.
Was tust du?
Gehst du weg und überlässt deinem Gegenüber ein Stück deines Territoriums? Wenn du das tust, dringt er ein, merkt sich, dass du nachgegeben hast, und wendet beim nächsten Mal dieselbe Taktik an. Er hat gewonnen. Du sagst nun, dass es dir ja gar nicht ums Gewinnen geht. Aber eigentlich geht es genau darum. Das wirst du gleich sehen. Wenn du weg gehst, hast du Energie ausgegeben, für den bis hierhin geführten Streit. Du schöpfst jedoch keine neue Energie. Bei deinem Gegenüber, der gewonnen hat, schüttet das Belohnungssystem Hormone aus, die ihn friedlich und glücklich stimmen. Es ist auf kurzfristige Erfolge programmiert. Dazu gewinnt er neue Kraft und Energie, weil du sie ihm überlassen hast, als du weg gingst. Du jedoch bist unglücklich, dass du überhaupt streiten musstest und dass du den Ort verlassen musstest, weil dein Gegenüber zu laut und zu heftig wurde. Du konntest das nicht ertragen. Da du instinktiv spürst, dass du einen Teil deines Territoriums abgegeben hast, ärgerst du dich über dich selbst. Du hast aufgegeben und verloren und fühlst dich wie ein Verlierer. Du kannst nur noch Energie aus der Sache ziehen, indem du dich später mit dem Gegner versöhnst. Hört sich nach einer Gewinn-/Verlustsituation an, oder?
Das zweite Szenario ist der Gewinn. Dieselben Voraussetzungen, nur diesmal bleibst du und fechtest die Diskussion bis zum Ende aus. Dein Gegenüber gibt irgendwann auf, da er nicht mehr mit deinen Argumenten oder deiner Lautstärke oder deiner Vehemenz mithalten kann. Nun bekommst du die Hormonausschüttung und die eingesetzte Energie zurück. Außerdem nimmst du die Energie auf, die dein Gegner ausgegeben und zurückgelassen hat. Du fühlst dich kurz gut. Doch dann kommt der Kater. Spätestens, wenn die Hormone schwinden, machst du dir Gedanken, ob du dem anderen nicht Unrecht getan hast, ob du nicht vielleicht zu vehement deinen Standpunkt verteidigt hast, ob du nicht zu laut warst. Es zieht dich zu einer Aussprache mit dem Verlierer. Normalsensible Menschen haben dieses Gefühl meist nicht. Sie gewinnen einen Disput und freuen sich darüber. Dann vergessen sie ihn mehr oder weniger schnell.
Hochsensible nehmen jedoch die ganzen Gefühle und die Energien des Gegenübers wahr und verarbeiten sie noch lange nach dem Streit. Dies kann dich noch Tage beschäftigen, während dein Gegner bereits alles vergessen hat. Du solltest nicht dem Verlangen nachgeben, dich zu entschuldigen. Versöhnen kannst du dich, aber akzeptiere deine Gewinnerrolle. Wenn du einknickst, auch wenn du Unrecht hattest, ziehst du dich wieder von deiner Grenze zurück und überlässt sie dem Unterlegenen. Dies hat sogar noch schlimmere Folgen, als wenn du weggegangen wärst. Denn jetzt erkennt dein Gegner, dass er gegen dich nie verlieren kann. Wenn du unterlegen bist, gehst du weg, und wenn du überlegen bist, schenkst du dem Unterlegenen den Sieg nachträglich.
Auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Das sind alles Mechanismen, die aus dem Kampf ums Überleben hervorgegangen sind. Millionen Jahre der Evolution kann man nicht aus dem Menschen heraus bekommen. Bereits als wir Tiere waren, ging es darum, wer stärker war. Damals wurde es durch Drohgebärden oder handgreiflich ausdiskutiert. Man findet dieses Verhalten immer noch bei unseren Verwandten, den Affen. Der Stärkere hat immer noch das Sagen.
Heute haben sich die Handgreiflichkeiten in verbale Auseinandersetzungen verwandelt. Das Prinzip von Revier und Grenze ist jedoch dasselbe. Wenn du es zulässt, wird dir dein Revier Stück für Stück weggenommen und damit immer ein Stück deiner Komfort- und Regenerationszone und deiner Energie. Schließlich hockst du in deiner kleinen Bretterhütte und dein Gegner streicht direkt vor deiner Tür drum herum und wartet, bis du nicht mehr anders kannst, als herauszukommen. Es ist also wichtig, nicht zu verlieren.
Wenn du unterlegen bist, solltest du trotzdem nicht sofort weggehen, sondern versuchen, den Streit abzumildern und auf ein Unentschieden hinzuarbeiten. Denn die einzige Situation, in der du beruhigt wieder in die Normalität übergehen kannst, ist die, in der du den Streit unentschieden beilegen kannst. Am besten überzeugst du dein Gegenüber davon, dass ihr beide valide Standpunkte habt und es sich nicht lohnt, für Streitereien solche Energien aufzubringen. Wenn sich die Wogen geglättet haben, kannst du beruhigt die Szene verlassen und brauchst keine Gedanken mehr daran verschwenden. Jeder weitere Gedanke kostet Energie.
<Sexualität und Sensibilität | Die Leichtigkeit des Seins> |
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.