Ich habe mittlerweile etliche Menschen kennen gelernt, die wie ich ticken. Das liegt an der natürlichen Anziehungskraft. Du ziehst immer Menschen an, die zu deiner derzeitigen Einstellung zum Leben passen oder ihr diametral gegenüberstehen. Das sind beides die für dich interessantesten Pole. Mit den einen gehst du konform und an den anderen kannst du dich reiben.
Bei den meisten hochsensiblen Frauen habe ich festgestellt, dass sie sich früh mit ihren Fähigkeiten arrangiert haben. Besonders Frauen, die nicht in die kopfgesteuerte Wissensschiene geraten sind. Männer hingegen hatten beinahe alle Probleme mit ihrem Umfeld. Meistens sogar Erhebliche. Hierfür gibt es einen einfachen Grund: Die Entwicklungsgeschichte unserer Spezies.
Viele »zivilisierte, moderne« Menschen glauben ernsthaft, man könne uns nicht mehr mit den Wesen in Verbindung bringen, aus denen wir uns entwickelt haben. Die Urmenschen, die Ägypter, Griechen, Römer, Kelten, Germanen, Menschen aus dem Mittelalter. Das alles haben wir überwunden, sehen uns gerne als »bessere« Menschen und lehnen die Vergangenheit gerne ab oder blenden sie aus. Unsere Urinstinkte haben wir mittlerweile im Griff und können unsere niederen Bedürfnisse willentlich steuern. So denken viele Mitmenschen heute. Da muss ich leider sagen: Weit gefehlt. Genauso wie wir Organe, Nervenstränge, Muskulatur, Knochengerüst und Teile des Gehirns mit den besagten Vorfahren teilen, teilen wir auch die niederen Instinkte. Das Gehirn ist zwar an Masse gewachsen und gestaltet sich komplexer, hat jedoch nicht einen einzigen Bereich wieder verloren. Stammhirn, Hypothalamus und Thalamus begleiten uns in beinahe unveränderter Form schon seit Zehntausenden von Jahren. Die Produktion und Wahrnehmung von Pheromonen und Hormonen läuft unverändert ab. Wir finden den geeigneten Paarungspartner immer noch mit der Nase. Wenn wir ihn gefunden haben, steigert sich immer noch unser Bedürfnis nach sexuellem Kontakt, um das Überleben der Spezies zu sichern. Natürlich können wir hier künstlich eingreifen und bewusst verhüten, doch die körperlichen Bedürfnisse können wir nicht steuern. Hunger, Durst, Verdauung, Sexualtrieb, Blutkreislauf und Reizaufnahme werden unbeeinflussbar vom Gehirn gesteuert. Etliche Grundregeln sind fest in unserem Gehirn verdrahtet. Überlebensstrategien, die so alt sind, dass wir uns diesen Zeitraum nicht einmal bewusst vorstellen können. Urängste gehören dazu. Die Angst vor dem, was in der Dunkelheit lauert. Angst vor offenem Feuer, Angst vor Tieren, die so anders sind als wir, dass sie uns als Monster vorkommen. Rollenverhalten gehört ebenso dazu. Selbst wenn wir uns in den letzten 100 Jahren einreden, dass die Geschlechter beide gleich geworden sind, stehen dem Zehntausende Jahre entgegen, in denen uns bewusst war, dass jedes Geschlecht eine bestimmte Funktion hat. Die Machtverteilung der Geschlechter hat sich seit den Anfängen der Menschheit in verschiedenen Kulturen abgewechselt. Es gab schon immer Völker, in denen die Männer als Ernährer die Rolle der Mächtigen einnahmen und Frauen wenig bis keine Bedeutung hatten. Andererseits existierten Kulturen, die die Frauen gottgleich anbeteten. Hier waren die Männer die Untergeordneten. Wiederum andere Kulturen stellten beide Geschlechter gleich.
Nur weil wir uns seit der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert als moderne Menschen verstehen, bedeutet dies nicht, dass wir alle Taue in die Vergangenheit durchtrennen konnten.
Bei Frauen galt schon immer als normal, dass einige von ihnen sensibler waren als andere. Männer hatten immer den Anspruch, genauso belastbar zu sein, wie ihre Geschlechtsgenossen. Frauen bestritten den Wettkampf der Sozialisation. Wer die besten Netzwerke zu knüpfen vermochte, dessen Überleben war am besten abgesichert. Männern kämpften darum, in der Jagd und der Landwirtschaft am besten abzuschneiden. Wer den meisten Ertrag nachhause schaffte, sorgte am besten für seine Familie.
Beim Zwischenmenschlichen hilft die Hochsensibilität enorm. Die Empathie, zu der wir fähig sind, macht uns sympathisch. Unsere Gegenüber fühlen sich wahrgenommen und verstanden. Wir kümmern uns um ihre Probleme und helfen ihnen aus ihrer Gefühls- oder weltlichen Misere. Dies gereicht Frauen zum Vorteil. Männern jedoch steht es im Weg. Seien wir mal ehrlich: Die meisten Kerle sind dumpfe, sehr einfach gestrickte Gestalten, die mit Essen auf dem Tisch, Bier im Kühlschrank, genügend Sex und ihrem jeweiligen Spielzeug schnell zufrieden zu stellen sind. Sie mögen zwar schlau oder dumm sein, lassen sich von den meisten Frauen jedoch willig steuern und durchs Leben führen. Das ist bei hochsensiblen Männern anders. Wir suchen nach unserer Bestimmung und hinterfragen vieles. Manipulationsversuche erkennen wir auf einen Kilometer Entfernung und uns wird schneller langweilig, wenn wir immerzu dieselben Tätigkeiten ausüben müssen.
Wenn Frauen besonders sensibel sind, werden sie schlimmstenfalls als Mimose bezeichnet, doch ihre Sensibilität wird vom Großteil der Bevölkerung toleriert. Frauen waren im Durchschnitt schon immer viel sanfter und sensibler als die meisten Männer, deswegen fällt der Unterschied nicht so sehr auf.
Hochsensible Männer stechen jedoch aus der Mannsgesellschaft heraus wie ein Leuchtturm mitten auf einem Dorfplatz. Sie werden als Weichlinge und Bedenkenträger und Sonderlinge wahrgenommen, die sich doch nur anstellen. Meistens werden sie ausgegrenzt. Wer so anders ist, als der normale tumbe Mann, gefährdet das Überleben. Wer Ziele verfolgt, die über die Einkommenssicherung hinaus gehen, wird unter Generalverdacht gestellt, das System kippen zu wollen. Wer Gefühle zeigt und Verständnis, wird verdächtigt, zu viele Eigenschaften von Frauen geerbt zu haben und womöglich homosexuell zu sein. Weil man in der Vorstellung von Normalsensiblen innen drin wie eine Frau funktioniert und deswegen auf das »andere Geschlecht« stehen muss, das körperlich jedoch das eigene ist – das ist eine Logik, oder? In Wirklichkeit funktionieren HSP-Männer innerlich genauso, wie andere. Wenn sie schwul sind, dann nicht weil sie Hochsensible sind. Wer vor den anderen Männern eine Pause benötigt, um gut weiter funktionieren zu können, wird als Schlappschwanz oder gar faul hingestellt. Diese Annahmen kommen dem normalen Mann automatisch in den Sinn.
Das Perfide an der Sache ist, dass bei uns Hochsensiblen dieselben Mechanismen anerzogen sind. Also stellen wir automatisch dieselben Ansprüche an uns, die andere Männer an uns stellen. Daraus resultieren häufig ein großer Komplex an Schuldgefühlen und der Hang, uns abzuhärten und immer mehr von uns zu fordern. Wir leisten eine Zeit lang doppelt oder dreifach so viel, um »mithalten« zu können, oft bis zur Erschöpfung und zum Zusammenbruch. Gefühle werden verdrängt und Schmerzen und Energielosigkeit unterdrückt. Alles nur, um unsere übersteigerten Erwartungen an uns selbst zu erfüllen. Dabei fragen wir uns trotzdem immer noch: Warum bin ich so anders und kann nicht oder nur unter großer Mühe im Wettkampf mithalten? Warum können die Kollegen nach der Arbeit noch in einer Kneipe einen trinken gehen, wo ich am liebsten schon seit zwei Stunden auf dem Sofa liegen würde? Warum benehmen die sich immer so hölzern und unsensibel und lachen auch nach dem hundertsten Mal über die gleichen dummen Sprüche? Warum schütten sie immer ihren Kummer bei mir aus? Und wenn ich Gefühle und Verständnis zeige, halten sie mich für schwul? Bin ich vielleicht sogar wirklich schwul und kann es mir nur nicht eingestehen?
Männer, die als Kind schon von ihren Eltern (meistens sind es ebenfalls Hochsensible) darin gefördert werden, ihrer Natur nachzugeben, landen meist in künstlerischen, medizinischen oder sozialen Berufen. Dort werden ihre Fähigkeiten geschätzt und gefördert. Sie bringen es oft weit auf der Karriereleiter, wenn sie ihrem Gefühl und ihrer Intuition folgen. Wer kennt nicht den Arzt, der beinahe auf wundersame Weise präzise Diagnosen stellt? Den Pfleger, der seine Patienten behandelt, als wären sie Teil seines Freundeskreises? Den Erzieher, der alles dafür tut, dass die Kinder einen guten Start ins Bildungsleben bekommen? Den Musiker, der all seine Emotionen in seine Kunst steckt und beinahe überirdisch schöne Musik schafft? Den Maler, dessen Bilder uns tief bewegen? Den Friseur, der immer tolle Tipps für alle schwierigen Lebenslagen parat hat? Den Heilpraktiker, der sich um die Ganzheitlichkeit unserer Körper-Geist-Seele-Beziehung sorgt? Sie sind meist zufrieden, da die Menschen für ihre Kunst oder Unterstützung dankbar sind.
Der Maurer, der sich um die Probleme seiner Kollegen kümmert und dafür kurze Zeit die Arbeit niederlegt, wird vom Polier heruntergeputzt. Der Wissenschaftler, der instinktiv weiß, dass die Versuche alle in die falsche Richtung zielen, wird von seinen Kollegen als Quertreiber verschrien. Der Anwalt, der Verständnis für die Verfehlungen seiner Klienten zeigt, wird als unfähig betrachtet, da er nicht mit voller Überzeugung das Rechtssystem durchfechten kann. Der Polizist, der nach dem Streifengang erst einmal eine Pause benötigt, um all die Eindrücke zu verarbeiten, denen er gerade ausgesetzt war, wird als faul beschimpft. Hochsensible Männer in typischen Männerberufen leiden unter den Anforderungen, denen sie sich stellen müssen. Absolut ungerecht hierbei ist, dass die Vorgesetzten und Kollegen, die diese Anforderungen durchsetzen, nicht bemerken, dass wir in derselben Zeit 150, 200 oder sogar 300 % von dem leisten, was sie selbst zu leisten vermögen und dafür eben früher Pausen benötigen. Dazu kümmern wir uns oftmals um den Frieden und den Zusammenhalt in der Firma und lösen die zwischenmenschlichen oder privaten Probleme der Kollegen, die ihre Arbeitskraft belasten. Das sieht nur niemand.
Erst wenn wir zusammen brechen, fragt sich die Umwelt, wie es dazu kommen konnte. Dabei haben die Kollegen und Vorgesetzten ihren Teil dazu beigetragen. Aber wir natürlich selbst auch. Wir müssen nicht in der Tretmühle mitmachen. Wenn es uns egal wäre, was man von uns erwartet, und man den Kollegen und Vorgesetzten klar machen würde, wie sie uns richtig einsetzen und wo unsere Stärken für die Firma liegen, wäre das alles kein Problem. Mit unserer Weitsicht, unserem untrüglichen Gefühl für richtig und falsch, unserem guten Timing und unserem Fürsorgebedürfnis würden wir hervorragende Vorgesetzte oder Berater abgeben. Wenn wir uns nicht mehr mit dem alltäglichen Kleinkram herumschlagen müssten, könnten wir uns darauf konzentrieren, andere sicher und einfühlsam zu lenken oder zu beraten.
Natürlich wird im Moment nur selten ein Firmeneigentümer oder jemand in der Hierarchie eines größeren Betriebs das so sehen. In kleineren Firmen ist es oft schon gar nicht möglich, da es in der Führungsebene nur den Eigentümer gibt. Was uns dann bleibt, ist die Selbstständigkeit.
Mir ist aufgefallen und auch in der HSP-Literatur wird oft erwähnt, dass sich hochsensible Männer um die 40 neu orientieren und sich noch einmal ausbilden lassen und sich wirklich als Selbstständige betätigen. Oft als Therapeuten, Erzieher oder in anderen sozialen Berufen. Bei einigen bricht sich dann endgültig ihre künstlerische Ader Bahn. Für viele jedoch, die sehr sicherheitsbewusst leben, ist ein Ausstieg aus ihrem Beruf undenkbar, denn das würde ja eine unsichere Zukunft bedeuten. Sie sitzen lieber die Zeit bis zur Rente aus und verwirklichen sich dann selbst.
Bei meinen vielen Freunden und Bekannten waren die hochsensiblen Frauen stets zufriedener mit ihrem Leben.
Männer hingegen, die nicht ihren Neigungen nachgaben und einen der wenigen für Hochsensible geeigneten Berufe ergriffen haben, benötigen Jahrzehnte, um zu lernen, in ihrem Umfeld zurechtzukommen.
Mein Ratschlag für alle hochsensiblen Männer: Steht zu euren Fähigkeiten und Nachteilen und versucht sie in der Arbeitswelt und im Privaten so gut wie möglich auszuleben. Es wird euch besser gehen, wenn ihr euch mit euren Kollegen, eurer Familie und euren Freunden arrangiert. Das Wichtigste dabei ist wiedermal authentisch zu bleiben und sich selbst bewusst zu werden.
<Die Macht ist mit dir | Kinder, Fantasie und Realitätsflucht> |
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