Wie ein Baby ist das Neugeborenen-Ich sehr empfindsam und auch empfindlich. Es benötigt Schutz, Fürsorge und Liebe, um im alltäglichen Leben nicht unterzugehen und zu verkümmern. Es versteht nur wenige Basisgrundsätze. Um die Reize zu interpretieren, die es empfängt, verlässt es sich ganz und gar auf seinen Versorger, das Erwachsenen-Ich. Das Neugeborenen-Ich ist sich (wie ein echter Säugling) seiner Umgebung nicht bewusst, es besteht nur aus zwei Teilen: Die Bedürfnisse, die sein Körper ihm meldet, damit sein Überleben gesichert wird, und die starke Verbindung zu deiner emotionalen und empathischen Seite. Babys reagieren auf gezeigte Emotionen viel stärker. Da sie noch nicht gelernt haben, ihre emotionalen Ausdrücke zu kontrollieren, lassen sie ihnen freien Lauf. Lachen, Weinen, Wut und Angst treten viel deutlicher hervor als bei größeren Kindern und Erwachsenen. Allerdings nehmen sie die feineren Nuancen der emotionalen Körpersprache nicht so deutlich wahr, wie es die Erwachsenen tun. Nicht umsonst ist bei uns Erwachsenen die Verhaltensweise eingebaut, bei der Kommunikation mit Säuglingen unsere Emotionen besonders intensiv und übertrieben darzustellen. Das Lächeln wird breiter, die Stimme lauter und sie passt sich in Höhe und Aussprache der Verständnisebene des Babys an. Wir drücken unmissverständlich das aus, was wir dem unverständigen Bündel vor uns mitteilen wollen. Egal ob es die Liebe ist, die wir verspüren, oder der Ärger, weil der Winzling uns mit seinem Geschrei nervt. Was wir nicht wahrnehmen ist, dass Babys in den ersten Monaten eine stärkere Verbindung zum höheren Netzwerk besitzen, da sie noch kein Erwachsenen-Ich ausgebildet haben. Das ist der Unterschied zu unserem NI, denn wir haben bereits ein Erwachsenen-Ich. Die Verbindung zum HI sichert sein Überleben. Der direkte Zugriff darauf geht in den weiteren Lebensphasen ebenso verloren wie die angeborene Schwimmfähigkeit. Babys sind deutlich empathischer und ihre Filter sind noch nicht ausgeprägt. Sie müssen ihre Umgebung mit ihren begrenzten Mitteln genauer wahrnehmen, um rechtzeitig auf Gefahren hinzuweisen, die ihren Leib und ihr Leben gefährden.
Das ist auch ein wichtiger Punkt bei uns Hochsensiblen. Das Neugeborenen-Ich ist genauso empfindlich und hilfsbedürftig wie ein Baby. Es kann die Situationen, in die wir uns begeben, nicht so genau abschätzen, wie das Erwachsenen-Ich. Deswegen erfolgen häufig Überreaktionen. Es warnt uns auch oft in Situationen, in denen eigentlich keine lebensbedrohlichen Gefahrenquellen lauern. Dabei kann es schon sein, dass es dem Rest der inneren Familie bereits ein schlechtes Gefühl oder Panik signalisiert, obwohl nur eine einfache Überreizungssituation vorliegt. Das Erwachsenen-Ich bekommt das Warnsignal aus dem Inneren und hält nach gefährlichen Situationen Ausschau. Wenn es dann keine entdecken kann, unterdrückt es mitunter die Warnsignale des Neugeborenen-Ichs. Das passiert gerade wenn man keine Kenntnis vom inneren Familiensystem hat. Wenn die Situation nicht gelöst wird, kann dies zu einer Steigerung der Signalstärke führen. Es kommt darauf an, inwieweit das Erwachsenen-Ich die Kontrolle über das Neugeborenen-Ich erlangt hat. In der wirklichen Familie würde ein Baby weinen, weil es durch ein lautes Geräusch aufgeschreckt wurde. Die Mutter schaut sich nach einer Gefahrenquelle um und bemerkt keine. Die Quelle ist ja auch schon versiegt. Das Geräusch war einmalig und die Mutter hat es nicht als bedrohlich oder besonders laut empfunden und verbindet es nicht als Auslöser mit dem Geschrei des Säuglings. Sie prüft nun, ob ihr Sprössling Hunger hat oder eine neue Windel benötigt. Das ist nicht der Fall. Das Baby schreit weiter. Es weiß nicht, dass keine Gefahrensituation vorliegt. Stattdessen rechnet es jederzeit damit, dass weitere ‚Gefahren‘ auftreten. Die Mutter nimmt das Geschrei ihres Kindes nicht ernst, weil es in letzter Zeit oft unbegründet geschrien hat. Sie beruhigt es nicht sofort, deswegen steigert sich das Baby in seine Angstsituation hinein. Es schreit stärker und lauter. Wenn die Mutter nun immer noch nicht reagiert, gibt es einen Punkt, der die Beruhigung des Säuglings immens erschwert. Wenn das Baby über diesen hinweg ist, schlägt es bis zur Erschöpfung Alarm. Die Angst steigert sich in Panik. Es sieht aufgrund der Vernachlässigung seitens der Mutter die eigene Existenz bedroht und will nun alle Lebewesen in der Umgebung auf sein Problem aufmerksam machen, damit sich jemand anderes um es kümmert.
Das Beispiel in der inneren Familie: Man befindet sich auf einer Feier, die man schon einige Stunden nur aushält. Eigentlich hatte man nicht mal Lust teilzunehmen. Die Musik ist zu laut, viele Menschen unterhalten sich schreiend. Es wird viel geraucht, das Essen ist stark knoblauchhaltig. Die meisten Deos haben bereits versagt. Es ist schummrig, doch ab und an blitzen die Lampen der Lichtorgel uns ins Gesicht. Die eigenen Filter bekommen das für uns immense Chaos nicht in den Griff. Vielleicht heult sich eine Freundin wegen einer kürzlich erfolgten Trennung bei uns aus und wir verarbeiten ihre Emotionen für uns mit. Sie lädt ihren ganzen Frust bei uns ab. Wir werden immer mehr überfordert. Im Nachbargespräch rechts beschwert sich jemand über die ungerechten Zustände im Land und links tratschen einige Leute darüber, dass ein Nachbar sich schon wieder ein neues Auto und eine Luxusreise nach Hawaii geleistet hat. Sie vermuten, dass die Familie bis zum Hals verschuldet ist. Hinter uns reißen ein paar Kerle ständig zotige Witze und lachen laut darüber. Wir sind schon lange über den Punkt des Wohlfühlens hinaus. Aber da die Freundin unseren Trost benötigt, wollen wir noch nicht gehen. Außerdem wäre es dem Gastgeber gegenüber nicht höflich, als Erster die Party zu verlassen. Unser Neugeborenen-Ich nimmt die Situation schon lange als bedrohlich wahr. Die Überforderung lenkt das Erwachsenen-Ich so sehr ab, dass es die Nöte und Bedürfnisse des Neugeborenen-Ichs nicht wahrnimmt. Es ist ganz und gar mit dem Verarbeiten der Eindrücke beschäftigt und kommt schon lange nicht mehr hinterher. Nun braucht es nur noch eine kurze zusätzliche Stimulation in Form einer unvorhergesehenen Störung, um das Fass zum Überlaufen zu bringen. Wenn sich dann zum Beispiel der betrunkene Partner nähert und uns zum Tanzen überreden will, kann es sein, dass wir komplett überreagieren und den Partner nicht nur zurückweisen, sondern ihm auch im folgenden Streitgespräch all seine Verfehlungen der letzten Tage vorhalten. Der Partner fühlt sich überfahren und schlägt zurück. Das Ganze eskaliert. Wir müssen uns auf die Toilette zurückziehen oder nach draußen gehen und wissen gar nicht recht, was passiert ist. Es folgt eine Panikattacke, weil wir unsere Beziehung nun auch noch bedroht sehen. Das ist sicher eine Ausnahmesituation, in der wir das Neugeborenen-Ich komplett vernachlässigt haben.
Doch wer kennt nicht die Reaktion auf das herunterfallende Brötchen, auf das wir uns seit einer Stunde gefreut hatten, während wir in den überfüllten Kaufhäusern der Stadt shoppen waren? Wenn wir wegen so einer Kleinigkeit, die uns normalerweise ein bloßes Stirnrunzeln entlockt hätte, plötzlich komplett ausrasten und mitten auf der Einkaufsmeile eine Schimpfkanonade allererster Güte loslassen und das Universum beschuldigen, sich komplett gegen uns verschworen zu haben?
Solche Reaktionen werden aufgrund des Drucks hervorgerufen, den unser hilfloses Neugeborenen-Ich in uns verursacht, um auf sich und seine Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Es steigert dieses unangenehme Gefühl bis hin zu einer inneren Panik, wenn wir nicht mit Reizreduktion, einer Ruhephase oder Befriedigung des Hungergefühls reagieren. Das passiert bei Normalsensiblen ebenfalls, allerdings dauert es viel länger, bis sie an diesem Punkt angelangt sind. Dann ist die Reizsituation meistens schon lange vorbei.
Oft steht unser Erwachsenen-Ich dem entgegen, das dann »nur noch schnell mal« etwas erledigen, nachsehen oder koordinieren will. Ich habe Menschen kennen gelernt, die aus einer absoluten körperlichen Ruhe, während sie Fernsehen schauten oder Computer spielten, unvermittelt in eine Panikattacke hineingeraten sind. Und das nur, weil sie schon seit längerer Zeit auf Toilette mussten oder Hunger hatten. Da sie die Bedürfnisse über Stunden unterdrückten, meldete das Neugeborenen-Ich vehement eine nicht existente Lebensgefahr, die dann ebenfalls wieder unterdrückt wurde, weil der Film oder das Spiel gerade so spannend war.
Was können wir zukünftig gegen solche Ausnahmesituationen tun?
Achtsamkeit und Wahrnehmung sind die Zauberworte. Das Erwachsenen-Ich ist bei uns Hochsensiblen zum überwiegenden Teil einfach nur dafür da, die Bedürfnisse des Neugeborenen-Ichs wahrzunehmen und zu stillen. Wir haben die Werkzeuge mitgeliefert bekommen, sehr gut auf unser Inneres hören zu können. Wir sollten es deswegen nicht ignorieren oder unterdrücken, sondern ihm so weit wie möglich nachgeben und es wohlwollend und fürsorglich behandeln. Das Neugeborenen-Ich weiß schon von selbst, was es braucht. Das, was dieses Bild verfälscht und uns dazu bringt, zu viel zu essen, zu trinken oder andere Bedürfnisse zu übertreiben, ist immer das Erwachsenen-Ich.
Dieses Verhalten resultiert aus jahrelanger Indoktrination durch Schule und Gesellschaft, die das Wissen als höchstes Gut anpreist. Der Kopf hat bei allem die größte Macht zu haben. Jeder andere Teil des Menschseins hat sich dem unterzuordnen. Wir leben im Zeitalter des Egos (Verstandesbewusstsein), in dem Emotionen und andere ungreifbare Dinge wie die Seele sich der Rationalität zu beugen haben. Wenn wir dem Erwachsenen-Ich jedoch die Macht entziehen und mehr auf unser Neugeborenen-Ich und Höheres-Ich achten, geht es gerade uns Hochsensiblen besser.
Trinke, wenn du durstig bist, und schiebe es nicht hinaus, weil du denkst oder dir jemand sagt, dass du viel zu oft etwas trinkst und auf Toilette gehst. Unsere gesteigerten Gehirnaktivitäten, die all die Reize verarbeiten, die uns überspülen, setzen genügend Wasser und Energie im Körper voraus.
Iss, wenn du hungrig bist, auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist. Iss das, worauf du Hunger hast, und lasse das weg, was dir ethische oder gesundheitliche Schwierigkeiten verursacht. Du brauchst nichts zu essen, was du nicht für einwandfrei hältst, egal was gesellschaftliche Normen oder die Höflichkeit dir angeblich gebieten. Wenn du Vegetarier oder Veganer werden willst, weil du Tiere sehr liebst, oder du komplett auf Zucker, Weizen oder Palmölprodukte verzichten möchtest, weil durch deren Produktion die Umwelt geschädigt wird, dann tu das. Du brauchst dich nicht dafür zu rechtfertigen, auch wenn andere das denken. (Als Tipp: Eine gute Freundin sagte neulich, sie würde auf Nachfrage nur noch angeben, sie sei Flexitarierin und esse nur noch das, worauf sie Lust hat. Seitdem beginnt niemand mehr eine Diskussion wegen ihrer Essgewohnheiten.)
Schlafe, wenn du müde bist, oder ruhe dich zumindest aus, auch wenn das mitten am Tag sein sollte. Wegen der erhöhten Reizaufnahme brauchen HSP oft mehr Schlaf. Andersherum solltest du auch aufstehen, wenn du nicht mehr wirklich müde bist. Zwing dich nicht dazu, weiterzuschlafen. Lass dich nicht beeinflussen, weil andere meinen, ein »richtiger« Tagesablauf bestehe darin, morgens um sieben aufzustehen, abends um elf zu Bett zu gehen und am Wochenende bis in die Puppen auszuschlafen. Finde deinen eigenen Rhythmus. Meiner sieht wie folgt aus: abends zwischen zehn und elf zu Bett. Fünf bis sechs Stunden Schlaf, Aufstehen um vier bis fünf. Mittagsschlaf um halb eins. Wenn das aus arbeitstechnischen Gründen nicht geht, gehe ich allein in der Mittagspause spazieren und sorge für eine möglichst reizreduzierte Umgebung um mich herum. Musik auf die Ohren und den Blick nach innen gerichtet. Natürlich musst du gleichzeitig auf den Verkehr aufpassen. Dann lege ich mich nach der Arbeit nochmal für eine halbe Stunde hin und döse. In der Zeit dazwischen bin ich die meiste Zeit fit, hellwach, energiegeladen und motiviert. Abends gehe ich dann ins Bett, wenn ich müde bin und meine Schlafschwere erreicht habe. Das kann auch mal um 20.30 Uhr sein oder um 23.30 Uhr. Seit ich meinen wirklichen Rhythmus einhalte, habe ich keine Schlafstörungen mehr, die mich eineinhalb Jahrzehnte begleiteten. Außerdem bin ich nicht mehr den ganzen Tag über müde.
Wenn du Lust auf Sex hast, dann lebe sie aus und unterdrücke sie nicht. Sieh das Bedürfnis nicht als schmutzig an oder denke, dass du aufgrund seiner Häufigkeit, Intensität oder was auch immer abnormal seist. Das ist normalerweise nicht der Fall. Eine Sexsucht setzt einen schweren psychischen Defekt voraus. Alle Menschen haben in Wirklichkeit unterschiedlich starke und unterschiedlich oft sexuelle Bedürfnisse. Also setze voraus, dass deine normal sind. Auch wenn du weniger oft welche haben solltest, ist das normal. Genauso kümmere dich um dein Bedürfnis nach Geborgenheit. Entweder mit einem Buch in deine Lieblingsdecke gekuschelt oder zusammen mit deinem Partner auf der Couch. Je nachdem, was deinen Bedürfnissen am nächsten kommt. Sollte kein Partner zum Kuscheln zur Verfügung stehen, frag doch einfach mal eine gute Freundin oder einen guten Freund, ob er oder sie mit dir kuscheln mag. Gehe aus dir heraus, um deine Bedürfnisse zu stillen.
Da das Neugeborenen-Ich für deine Emotionen zuständig ist, wirst du eine viel leichtere Verbindung zu deinen Emotionen vorfinden, sobald du dich gut um den Säugling in dir kümmerst. Du wirst viel leichter koordinieren können, was du gerade fühlst und in welchem emotionalen Zustand du dich befindest.
Du kannst dich auch mit ihm innerlich unterhalten und mit ihm verhandeln. Wenn du in einer Situation bist, die dir unangenehm ist und die dich überreizt, dann verhandle doch einfach mal mit deinem Neugeborenen-Ich, dass es einen Muffin oder ein Bad oder einen Film bekommt oder etwas, bei dem es sich besonders wohl fühlt, wenn es noch ein kleines Bisschen ohne zu murren aushält. Das wirkt Wunder.
Wenn dein Neugeborenen-Ich zufrieden ist, bist du ein wesentlich glücklicherer Mensch, entspannter und zufriedener als jemals zuvor. Probiere es einfach aus. Übrigens steht in allen großen Glaubensschriften der Welt eine Entsprechung des Satzes: »Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.« Die Voraussetzung, um andere lieben zu können, ist es also, sich selbst zu lieben, so gut es geht. Dazu gehört ebenfalls die Selbstfürsorge. Behandle also dein Neugeborenen-Ich mit möglichst viel Liebe. Das wird sich für dich lohnen.
<Einführung Innere Familie | Erwachsenen-Ich> |
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.