Die Nase ist ein beinahe magisches Kunstwerk der Natur. Als Empfänger für Düfte ist sie beim Menschen zwar nicht so ausgeprägt wie bei Hunden, doch gelingt es ihr mühelos, auch die Gerüche wahrzunehmen, die uns nicht bewusst erreichen. Wenn du auf einen Menschen triffst, hat deine Nase bereits lange herausgefunden, ob du ihn grundsätzlich sympathisch findest oder nicht. Menschen, die du »nicht riechen« kannst, widmest du weniger Aufmerksamkeit, als jenen, die deiner Nase als Wohlgeruch erscheinen. Die Auslöser dieser Erkenntnis sind Pheromone, die jeder Mensch verbreitet. Sie können selbst durch stärkste Parfums nicht unterdrückt oder überspielt werden. Sie sagen deiner Nase, wie sehr du genetisch mit diesem Gegenüber kompatibel bist, ob du eine ähnliche Abstammung hast und ob du dich mit dem anderen Geschlecht erfolgreich paaren könntest. Je stärker du den Anderen ablehnst, desto stärker sind die Übereinstimmungen im genetischen Muster. Nur wer deine Anlagen ergänzt, ist für eine gesunde Fortpflanzung geeignet. Natürlich gibt dir das nur einen ersten Hinweis. Danach nimmst du den Anderen noch in Augenschein und hörst dir seine Stimme an. Dann analysierst du, wie er sich bewegt und was er sagt. Dazu kommen schließlich noch positive und negative Erfahrungen, die du mit »ähnlichen« Personen gesammelt hast. Je mehr dir das alles gefällt, desto mehr fühlst du dich zu dem Menschen hingezogen. Je weniger Punkte dich ansprechen, desto weniger magst du ihn.
Um jeden Menschen gibt es einen Bereich, den er als Privatsphäre ansieht. Dieser Bereich ist in verschiedene Zonen aufgeteilt, genauso wie der Körper. Je nach Anziehungskraft des Menschen und der Sympathie, die du ihm entgegenbringst, erlaubst du ihm, tiefer in deinen privaten Bereich einzudringen. Zu Menschen, die du gar nicht magst oder die nur Passanten sind, hältst du mindestens eine Armeslänge Abstand, eher sogar noch etwas mehr. Dieser Bereich ist landläufig auch als Dunstkreis oder Tanzbereich bekannt. Menschen, die du einigermaßen leiden kannst, gibst du die Hand, also kommen sie eine halbe Armeslänge an dich heran. Gute Bekannte, Freunde und Familienmitglieder dürfen dich sogar umarmen, Partner und Eltern küssen.
Genauso verhält es sich mit Zonen auf deinem Körper. Eltern dürfen ihre Kinder in jungen Jahren überall berühren, später dürfen dies nur die Partner. Familie darf Hände, Arme, Rücken, Beine und ausnahmsweise auch einmal den Bauch oder Po berühren. Freunde womöglich nur Hände, Arme und den Rücken. Bekannte nur Hände und Arme. Fremde und unangenehme Menschen nur die Hände oder gar nichts. Die Zonen weichen je nach Kultur voneinander ab. So umarmen sich Südländer in mehr Fällen herzlich und geben sich womöglich Küsschen auf Wange oder Stirn. Weiter nördlich werden die Berührungsflächen spärlicher.
So viel zu deinem Bedürfnis. Wie sieht es nun in der Realität aus? Was ist mit dem Vertreter, der einfach auf dich zu kommt und dir die Hand gibt? Was ist mit der Tante, die dich ständig in den Arm nimmt, fest drückt und dir einen Kuss gibt? Was ist mit dem Kollegen, der dich einfach umarmt, ohne zu fragen? Was ist mit dem Kerl in der Bar, der unerlaubt den Hintern einer Frau berührt?
Du erinnerst dich sicher, wie du Grenzen finden kannst. Solange dir das Eindringen in dein eigenes Revier nichts ausmacht, hast du die Grenze noch nicht erreicht. Sobald es anfängt, dir unangenehm zu werden, bist du dabei, deine Grenze zu übertreten.
Übergriffe werden oft genug aus Höflichkeit einfach nur hingenommen und toleriert. Durch jede einzelne Handlungswiederholung wird deine Grenze immer weiter eingerissen, da du dich nach jedem Übergriff ärgerst oder dir sogar Vorwürfe machst. Beim nächsten Mal ziehst du dich womöglich schon vorab zurück und setzt die Grenze innerhalb deines Reviers statt im Äußeren. Der Eindringling nimmt dann automatisch den Raum ein, den du ihm überlässt. Wenn die Tante dich erst drei bis viermal umarmt und geküsst hat, traust du dich schon gar nicht mehr, sie darauf hinzuweisen, dass du das eigentlich nicht möchtest. Genau dasselbe ist es bei dem umarmenden Kollegen und dem Kerl mit der Hand am Po. Du hast irgendwann das Gefühl, dass du diese Situationen jetzt nicht mehr ändern kannst, ohne deinen Gegenüber zu beleidigen. Genauso sieht der Andere aus seiner Warte, dass du ihm die Erlaubnis gegeben hast, so zu verfahren, da du ja nicht »Nein« gesagt oder dich ablehnend verhalten hast.
Wie kommst du aus so einer Zwickmühle wieder heraus?
Zur Betrachtung einer solchen Situation ist es nützlich, in der Retrospektive oder in der Situation selbst, aus dir herauszutreten und die Begegnung neutral von außen zu betrachten. Wie verhältst du dich und wie verhält sich der Andere. Ohne Wertung und ohne Emotionen einfach mal zuschauen, wie die Begegnung abläuft.
Gehen wir in Gedanken also mal ganz zurück an den Anfang: Die erste Begegnung.
Ein Mensch kommt auf dich zu. Du kannst ihn nicht riechen, er sieht komisch aus und seine Körpersprache gefällt dir nicht. Dein Instinkt rät dir dazu, ihn nicht zu nahe kommen zu lassen. Er streckt die Hand aus und macht nicht auf einer Armeslänge halt. Was tun? Du kannst ihm die Hand geben. Alternativ kannst du auch mit dem Kopf schütteln oder einen Schritt zurück gehen und sagen: »Ich gebe nicht gerne die Hand.« Dein Gegenüber wird stutzig und dann? An diesem Punkt siehst du dich, wie es dir im ersten Moment gehen würde, wenn du an seiner Stelle wärst. Du würdest solch ein Verhalten seltsam finden, weil du gelernt hast, anderen aus Höflichkeit und der gesellschaftlichen Norm entsprechend die Hand zu reichen. Doch wie würdest du dann weiter reagieren? Dich wundern, nicht die Hand geben und es dir merken. Genauso wird es dem Anderen ergehen. Er findet dich vielleicht ein wenig unkonventionell, doch was soll er tun? Die wenigsten Menschen sind so aufdringlich, es darauf anzulegen, dich anzufassen. Falls es sich um solch einen Menschen handelt, kannst sagen: »Ich bin empfindlich gegen Keime und Bakterien.« Gesundheitliche Aspekte ziehen immer. Auch wenn das für den Moment geschwindelt sein sollte. Zumindest machst du dir keinen Vorwurf, deine Grenzen nicht gewahrt zu haben. Im Idealfall sagst du die Wahrheit: »Entschuldigen Sie, aber ich möchte Ihnen nicht die Hand geben.« Dafür braucht es aber ein wenig Selbstbewusstsein. Wenn du es hast, dann verfahre einfach so.
Beim Händegeben ist es bedenklich, wenn du dich immer und jedem gegenüber weigerst, die Hand zu geben. Solltest du das Bedürfnis haben, von niemandem angefasst zu werden, kann es sich um eine Zwangsstörung handeln. Hier rate ich dazu, mit einem Fachmann darüber zu sprechen. Händeschütteln ist eine soziale Komponente, die nicht nur dem Gruß dient, sondern ebenfalls darauf abzielt, mehr Vertrauen aufzubauen. Ein Händedruck sagt viel über den Menschen aus.
Bei weitergehendem Eindringen in die Privatsphäre um den Körper herum ist eine Abwehrreaktion legitim und wird sehr viel verständnisvoller behandelt. Ist der Mensch ein Freund oder Verwandter, kannst du entscheiden, ob du ihm so viel Vertrauen und Sympathie entgegenbringst, dass er dir näher kommen darf. Doch die Tante muss dich nicht gleich umarmen und abküssen, wenn du das nicht möchtest. Eine Möglichkeit wäre, ihre beiden Hände in deine zu nehmen und herzlich zu drücken. Wenn du diese Geste etabliert hast, dann wird sie es als genauso herzlich empfinden wie eine Umarmung. Wenn du die Umarmung zulassen möchtest, aber nicht den Kuss, dreh entweder den Kopf weg und lächle sie danach herzlich an, oder sage ihr einfach, dass du nicht geküsst werden möchtest. Sie wird vielleicht verwundert sein und kurzfristig ein klein wenig beleidigt, doch sie wird deinen Wunsch respektieren. Tut sie das nicht, dann gehe einfach bei der nächsten Begrüßung erst mal einen Schritt zurück und sage ihr: »Ich umarme dich nur, wenn du mich nicht küsst.« Das ist dein gutes Recht. Schließlich sind es dein Körper und deine Privatsphäre. Du kannst ihr erklären, dass das nichts damit zu tun hat, dass du sie nicht lieb hast. Sag ihr ehrlich, dass es dir unangenehm ist, wenn jemand außer deinen Eltern oder deinem Partner dich küsst. Die Wahrheit kann einem niemand übel nehmen in dieser Beziehung. Tut sie es dennoch, dann ist sie ein Egoist, der die Umarmung und den Kuss nur sucht, um sich selbst zu bestätigen oder eine zärtliche Zuwendung zu erzwingen. Dann ist es auch egal, ob du sie verärgerst.
Wenn jemand anderes dich irgendwo berührt, wo er oder sie es nicht soll, dann sag es ihm oder ihr einfach. Dem Mann oder der Frau, der oder die ungefragt deinen Hintern berührt, kannst du freundlich sagen, er oder sie möge das lassen, ohne Angst haben zu müssen, dass etwas passiert. In nahezu allen Situationen wird der Betreffende peinlich berührt sein, dass du es öffentlich ansprichst, denn damit wurde er eines sozial nicht anerkannten Verhaltens überführt und hat zudem die Chance bei den umstehenden Frauen – oder sie bei den Männern – verspielt.
Auch bei Menschen, bei denen du es bereits mehrfach zugelassen hast, dass sie dich ungewollt berühren, kannst du diesen Konflikt noch auflösen. Fasse den Mut und erkläre ihnen, dass du es zugelassen hast, da du ihnen nicht vor den Kopf stoßen wolltest, indem du die Berührung nicht zuließest. Aber die Beziehung zwischen euch werde darunter leiden, wenn diese Berührungen fortdauern.
Mit solchen geduldeten Berührungen ist es wie mit allem, was nervt. Die Beziehung zu dem Menschen, der diese nervigen Dinge tut, wird von Mal zu Mal schlechter. Irgendwann graut es dir vor dem Besuch der Tante, nur weil sie dich zu Beginn des Treffens umarmt und küsst, auch wenn sie sonst nett ist. Also fass dir Mut und kläre solche Situationen. Die Konfrontation wird zwar sehr merkwürdig werden, doch befreit sie dich und nach der ersten verwunderten oder beleidigten Reaktion, wirst du feststellen, dass dein Gegenüber dich umso mehr respektiert. Durch die Abgrenzung zeigst du Profil und wirst von deinem Gegenüber sogar mehr respektiert, da er mit dir nicht machen kann, wie ihm beliebt. Menschen lieben Leute mit Ecken, Kanten und Selbstbewusstsein.
Was tun, wenn wir uns in einer Situation wiederfinden, in der es uns unmöglich ist, den Abstand zu Menschen zu wahren, den wir gerne hätten oder benötigen?
Vorbereitung ist der Schlüssel. Nehmen wir an, du möchtest ein Rock- oder Popkonzert oder Festival besuchen, in einem großen Kaufhaus am Samstagmorgen bummeln oder an einer Demonstration oder einem Volksfest teilnehmen. Du könntest dir in Gedanken Zuhause schon eine Ritterrüstung, einen Raumanzug oder eine Motorradmontur aus Leder anziehen. Die Anzüge halten allen Schaden von dir fern und geben dir ein Gefühl der Sicherheit. Die Helme bieten alle ein Visier, das du zuklappen kannst. Du kannst erst mal mit offenem Visier nach draußen gehen und es bei Bedarf zuklappen, wenn dir jemand zu nahe kommt.
Dabei solltest du dir am besten Zuhause bereits vorstellen, wie sich das anhören würde und wie sich die Wahrnehmung dadurch verändert. Je mehr Sinne du gedanklich einbindest, desto leichter lässt sich die Vorstellung nachher abrufen. Bei einer Ritterrüstung klappt das Visier scheppernd herunter, vielleicht mit einem leisen Quietschen. Das Motorradvisier knarzt ein wenig über die Gummidichtung und schließt sich schmatzend. Ein Astronautenhelm schließt sich schwergängig und muss zum Schluss verriegelt werden. Dann strömt zischende Luft aus der Sauerstoff-Flasche hinein.
So kannst du dich beruhigt zwischen vielen Menschen bewegen und deine Wahrnehmung einschränken. Gedanken versetzen eben doch Berge.
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