»Nein!« ist ein Wort, das vielen Hochsensiblen nicht gern oder nur selten über die Lippen kommt. Wir sagen nicht gerne Nein, denn die Folgen eines Neins sind für uns nicht immer abzusehen. Ein Ja erfährt immer eine positive Reaktion.
Worum geht es überhaupt?
Jemand kommt zu dir und bittet dich um etwas. Egal was.
Du neigst wahrscheinlich dazu, vorschnell Ja zu sagen, bevor du die Situation durchdacht hast. Warum ist das so?
Die Ursachen hierfür sind chemischer Natur. Wenn du jemandem einen Gefallen erweist, bekommst du eine positive Reaktion. Deine Kognition nimmt diese Reaktion wahr, analysiert sie und meldet an dein Gehirn, dass du einen sozialen Erfolg erzielt hast. Das Gehirn aktiviert das Belohnungssystem und schüttet Glückshormone aus. Leider ist dein Belohnungssystem auf kurzfristige Erfolge programmiert und ignoriert langfristige einfach.
Welche Frage wurde gestellt? Nimm einmal an, eine Freundin ist umgezogen und fragt dich, ob du ihr bei der Renovierung hilfst. Du sagst also vorschnell ja. Du fühlst dich gut, weil deine Freundin glücklich ist. Dann kommen die Fragen: Wie groß ist die Wohnung? Antwort: 160 Quadratmeter. Und teilweise müssen auch Sanierungsarbeiten erfolgen. Außerdem müsste das Dach noch isoliert werden. Als du anfängst, darüber nachzudenken, graut dir vor dem Zeitaufwand, den diese vorschnelle Zustimmung dir abverlangt. Hättest du doch besser Nein gesagt. Jetzt hängst du in einem Prozess fest, der dich in den nächsten beiden Monaten gut hundert Stunden oder mehr Zeit kosten kann. Super gemacht, Belohnungssystem! Vielen Dank!
Ein krasses Beispiel zur Verdeutlichung, wie es kommen kann. Doch auch bei kleinen Dingen fängt der Ärger schon an. Ein Freund ruft abends an, ob du ihm noch helfen könntest, den Sperrmüll hinauszutragen, da morgen die Abholung stattfindet. Eigentlich hattest du es dir schon auf dem Sofa gemütlich gemacht und wolltest nur noch ein wenig fernsehen oder lesen, da du sowieso schon hoffnungslos überreizt bist. Doch du sagst stattdessen zu, ziehst deine Arbeitsklamotten an und quälst dich zu deinem Freund. Nach dem Raustragen des Sperrmülls fällt ihm ein, dass ihr ein paar Möbel rücken könntet. Danach überredet er dich dazu, auf ein Bier zu bleiben. Dabei jammert er dir die Ohren mit all seinen Problemen voll. Du kommst erst weit nach Mitternacht ins Bett und musst schon um sechs Uhr wieder hoch. Am nächsten Tag bist du müde und kaputt. Du weißt gar nicht, wie du den Tag überstehen sollst. Innerlich verfluchst du dich, dass du nicht einfach Nein gesagt hast.
Warum hast du das nicht?
Bei mir selbst habe ich jahrelang beobachtet, dass ich aus zwei Gründen ungern Nein gesagt habe. Erstens, da ich die direkte Enttäuschung meines Gegenübers spüren konnte, wenn ich es denn mal tat. Oft fand ich mich danach in der Situation wieder, dass jemand auf mich einredete. Derjenige bettelte, dass ich doch etwas tun oder helfen, mitkommen oder unterlasse solle. Forderungen wurden gestellt, man versucht mich zu überreden. Das Nein-Sagen wurde erschwert. Diese Reaktion folgt immer dann, wenn du einmal Nein sagst, aber vorher immer ja gesagt hast. Das Stichwort ist Konsequenz. In solchen Situationen musst du einfach konsequent vorgehen und dich auf keinen Fall wieder umstimmen lassen. Auch wenn du im Nachhinein denkst, dass du doch ja hättest sagen können. Die konsequente Handlungsweise ist hier notwendig, sonst wirst du unglaubwürdig und kannst noch schwerer nein sagen.
Wenn der Fragende dein Nein nicht akzeptiert und immer weiter bohrt, gibt es zwei Möglichkeiten, ihm zu verdeutlichen, dass du es ernst meinst. Die Erste ist die in entspanntem Tonfall gestellte Frage: »Was an meinem Nein hast du nicht verstanden? Willst du es nicht wahrhaben oder warum bohrst du immer noch nach?« Das setzt Gedanken bei deinem Gegenüber in Bewegung, dass du es wirklich ernst meinen könntest und er lässt dich in Ruhe. Die zweite Möglichkeit ist es, das Nein mit mehr Nachdruck zu wiederholen. Dabei hilft ein kleiner Trick. Stell dir vor, du ziehst die Ellenbogen gerade hinter den Rücken zurück. Deine flach ausgestreckten Hände zeigen mit der Handfläche zum Gegenüber und befinden sich unter der Schulter vor den Achseln. Dann stößt du die Hände ruckartig gerade nach vorn aus, als ob du dein Gegenüber wegstoßen wolltest. Gleichzeitig sagst du Nein! Die Bewegung führst du allerdings nur im Kopf aus.
Die Wirkung: Du machst denselben Gesichtsausdruck, als würdest du deinen Gesprächspartner wirklich wegstoßen und deine Augen drücken dasselbe aus. Dein Gegenüber merkt den Stoß anhand deiner Körperspannung, der übrigen Körpersprache und der Energie, die du aussendest. Das sorgt bei ihm dafür, dass er am liebsten einen Schritt zurückweichen würde, und tut dies im Kopf auch. Wenn du in Gedanken eine Bewegung ausführst, ohne dass die Arme oder Beine den Befehl für diese Bewegung bekommen, reagiert der Rest deines Körpers trotzdem so, als hättest du die Bewegung ausgeführt.
Zusammenfassend sagst du also nicht Nein, um die Konsequenzen zu vermeiden, die ein Ja für dich haben würden. Du bekommst keine Glücksmomente von deinem Hirn spendiert und musst negative Reaktionen und ein schlechtes Gewissen in Kauf nehmen. Doch langfristig ist dieses Nein viel besser für dich, da du Zeit gewinnst, die du für dich nutzen kannst. Außerdem bist du nicht immer dran. Es gibt noch andere Menschen, die helfen können.
Zweitens habe ich oft ja gesagt, da ich befürchtete, die Beziehung zum Fragenden zu verschlechtern. Ein Nein könnte mir ja übel genommen werden. Der Fragende hat schließlich konkrete Nachteile durch mein Nein.
Doch das Ergebnis war meistens kontraproduktiv. Oft habe ich festgestellt, dass Menschen, denen man ständig hilft und zu denen man nie Nein sagt, andere Menschen bevorzugen, die sie anscheinend schlechter behandeln. Wenn man mal kurz überlegt, ist das auch logisch. Um Menschen, die mir sowieso alles freiwillig geben, muss ich mich nicht so sehr bemühen.
Das ging so weit, dass ich selbst keine Hilfe von eben den Menschen bekam, denen ich am meisten geholfen habe, wenn ich sie mal wirklich brauchte. Ich war enttäuscht und auch böse auf sie. Wenn ich dann nachfragte, warum sie mir nicht geholfen hatten, bekam ich mitunter als Antwort: »Ich dachte, du bekommst das auch alleine hin, wie sonst auch immer.« Das hat dann dem Fass den Boden ausgeschlagen. Unfassbar. Was für ein Idiot!
Doch in Wirklichkeit ist mein Gegenüber kein Idiot. Es wirkt lediglich ein einfaches psychologisches Phänomen, das mir vor Kurzem bei einem Vortrag über Abgrenzung begegnete. Ein Psychologe erklärte, dass ich demjenigen, dem ich immer helfe, nur in der Helferrolle bekannt bin. Er erachtet mich als kompetenten Problemlöser, der so viel Können sein Eigen nennt, dass ich für andere Lösungen herbeiführen kann. Ich gelte somit bei ihm als Experte. Wenn ich einmal Hilfe anfordere, nimmt er das gar nicht als ernstes Anliegen wahr, da ich ja alles so gut kann, dass ich ihm stets helfe. Also schlussfolgert derjenige daraus, dass ich eigentlich niemanden benötige, der mir hilft. Im schlimmsten Fall macht er sich keine Gedanken über Konsequenzen, da er selbstverständlich voraussetzt, dass ich das nächste Mal, wenn er wieder Hilfe benötigt, für ihn da sein werde. Davon bekommt er nicht einmal bewusst etwas mit. Meine Anfrage wird einfach unterbewusst ausgefiltert.
Erschwerend kommt hinzu, dass viele Hochsensible sich meistens eher scheuen, Hilfe anzunehmen und lieber alles selbst regeln wollen. Das ist uns so in die Wiege gelegt worden.
Wenn du also bei jemandem immerzu ja sagst, brauchst du dich nicht wundern, wenn er zu dir nicht ja sagt, da er deine Bitte gar nicht als solche wahrnimmt. Mache ihn deswegen explizit darauf aufmerksam, dass du wirklich seine Hilfe benötigst und sonst niemand da ist, der dir helfen kann. Mitunter musst du diesen Vorgang wiederholen, bis deine Bitte wahrgenommen wird.
Kommen wir zu den Konsequenzen, die dich erwarten, wenn du nein sagst. Falls du es schon einmal ausprobiert hast, wirst du gemerkt haben, dass der Fragende zunächst eine Enttäuschung durchlebt. Er kam mit einer Erwartungshaltung zu dir, nämlich jener, dass du seiner Bitte nachkommst. Sollte er ohne Erwartungshaltung kommen, wird er auch nicht enttäuscht sein. Das passiert äußerst selten. Solche Menschen sind echte Altruisten und sehr wertvoll.
Die Enttäuschung der anderen verfliegt jedoch schnell und wird durch Akzeptanz ersetzt. Dein Gegenüber akzeptiert deine Entscheidung. Damit ist die Aktion abgeschlossen. Es folgen keine weiteren direkten Konsequenzen für dich. Außer – wie oben bereits erwähnt – du hast bisher in ähnlichen Situationen immer ja gesagt, dann startet der Fragende eventuell noch einen Überredungsversuch. Bleib stark und sage weiterhin nein, sonst wirst du unglaubwürdig.
Indirekt steigst du im Ansehen des Fragenden. Er zollt deinem Mut, ihm gegenüber nein zu sagen Respekt. Er beginnt, dich zu respektieren. Nur die starken, unabhängigen Vertreter unserer Spezies trauen sich, nein zu sagen. Zu den starken, unabhängigen Menschen hat man gerne ein gutes Verhältnis. Außerdem steigt der Wert eines Menschen (genauso wie der von Gegenständen), je mehr man sich um ihn bemühen muss.
Immer währendes Ja-Sagen bringt dich auf den Level einer Servicekraft, die unbezahlt bei unangenehmen Tätigkeiten hilft.
Das gilt gerade bei der Suche nach Partnern und in der Partnerschaft. Sowohl Mann als auch Frau möchte einen starken Partner an der Seite und keinen Ja-Sager.
Also hat Nein-Sagen durchaus positive Konsequenzen.
Wie immer bei Abgrenzung geht es auch bei der psychischen Abgrenzung nach außen darum, die richtigen Punkte zu finden, an denen du einwilligst oder ablehnst. An dem Punkt, wo es dir gut damit geht, kannst du einwilligen. Aber sobald du dich unwohl mit dem Gedanken fühlst einzuwilligen, ist die Grenze überschritten. Es bringt dir auch nichts, immerzu nein zu sagen, denn dann bleibst du tief in deinem Territorium zurück und bekommst keine Chance auf Entwicklung. Außerdem bekommst du im Zweifelsfall nie selbst Hilfe. Wenn du unschlüssig bist, teile das unverzüglich mit und bitte dir Bedenkzeit aus. Du bekommst spätestens am nächsten Morgen ein Gefühl, wie es dir gehen wird, wenn du der Bitte folgst. Sind die Konsequenzen überschaubar und du hast aber dennoch eigentlich keine Lust, einzuwilligen, sag ab und an ja, damit du deine Grenzen auch mal ausdehnen kannst, zum Beispiel wenn du durch die Hilfe neue Fertigkeiten erwerben oder einem Menschen in einer echten Notlage helfen kannst.
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