Das Erwachsenen-Ich wird in der Umgangssprache auch häufig das Bewusstsein genannt. Es ist der Teil deiner Persönlichkeit, der die rationale Ebene umfasst, also der Gedankenstrom, der ohne Unterbrechung in deinem Kopf fließt, auch als Ego bekannt.
Zum Denken gehört das Verarbeiten der Reize, die ungefiltert oder nur schlecht gefiltert auf dich einströmen, das Lernen bewusst oder unbewusst, das Ziehen von Schlüssen aus deiner Wahrnehmung und die bewusste Steuerung der Entwicklungen, denen wir Hochsensiblen unser gesamtes Leben lang unterliegen.
Normalsensible entwickeln sich häufig nur bis zum 25. Lebensjahr. Dann haben sie in der Regel ihren Lebensmittelpunkt gefunden, Kinder gezeugt, ein Zuhause geschaffen und sich in ihrem Beruf zurechtgefunden. Die emotionale und psychische Reife ist erreicht. Es besteht nur noch selten die Notwendigkeit, die erlernten Handlungen anzupassen. Wenn derjenige nicht am Kultur- oder Gesellschaftssystem aneckt oder durch Unfälle und Krankheiten dazu genötigt wird, das Leben umzustrukturieren, verläuft es häufig in den immer gleichen Bahnen. So lange, bis die körperliche Degeneration mit 60+ verstärkt einsetzt. Die meisten alten Menschen entwickeln sich schubweise wieder zurück zu einer beinahe kindlichen Form, in der sie um ihre Versorgung kämpfen und das Meiste vergessen, was sie Zeit ihres Lebens gelernt haben. Nur die breiten, immerzu begangenen Pfade verbleiben und verstärken sich anscheinend, da die anderen Nuancen der Persönlichkeit wegfallen. Es ist der genau umgekehrte Weg des Kindes auf dem Weg zum Erwachsenenleben. Im Grunde genommen ist es eine Expansion (Wachstum) des Einzelnen im ersten Lebensdrittel. Danach folgt eine Stagnation (Stillstand) im zweiten Lebensdrittel, die in eine Reduktion (Rückgang) übergeht, welche bis zum Tod verläuft.
Bei Hochsensiblen ist dies ein kleines bisschen anders. Körperlich gehen wir denselben Weg, doch geistig sieht es ganz anders aus. Durch die weniger gefilterte Wahrnehmung und die Erkenntnisse, die wir aus ihr gewinnen, entwickeln wir uns unser gesamtes Leben lang in verschiedene Richtungen weiter. Die Interessen der meisten Hochsensiblen wandeln sich über die Jahre hinweg. Wenn wir ein Feld soweit beherrschen, wie es uns unsere eigenen Möglichkeiten erlauben, wechseln wir das Interessengebiet. Beispiel: Der Naturfreund, der sich zuerst für die heimische Flora und Fauna interessiert und die Natur durchstreift, um alle Aspekte zu erfassen, wird mit einem Mal zum Holzwurm, der sich seine Möbel alle selbst herstellt und immerzu neue Dekogegenstände erstellt. Der Computerspezialist, der Jahre hinter dem Bildschirm hockt und alles über Geräte und Programme herausfinden will, mietet sich einen Schrebergarten und baut Nutzpflanzen an, nur um sich zehn Jahre später unvermutet der Malerei zu widmen. Der Musikgeschmack schwenkt im Laufe der Jahrzehnte zum Beispiel von Pop über Heavy Metal auf Jazz und Klassik. Alle möglichen Entwicklungen gehen in uns vor und spiegeln nach außen den inneren Wandel wider. Wenn wir das Ende einer Entwicklung erreicht haben, wandeln sich meist die Interessen mit, außer wir haben vorher das Ende der Interessen erreicht. Wenn wir alles über das Interessengebiet wissen, was es zu wissen gibt oder was uns daran begeistert hat, dann wird es uns schnell langweilig und wir suchen uns ein anderes Gebiet. Ideal sind Interessen, in denen sich ständig neue Aspekte ergeben. Deswegen sind viele Hochsensible Wissenschaftler oder wissenschaftlich interessierte Menschen. Andererseits bieten auch gerade die kreativen Betätigungsfelder wie Kunst, Musik, Geschichtenerzählung, immer wieder neue Aspekte, die man erlernen und entwickeln kann.
Hier kommt es sicherlich auf die Veranlagung an, jedoch auch sehr auf die Umgebung, in der man aufwächst. Hochsensible orientieren sich stärker an Leitfiguren als Normalsensible. Sie nehmen auch hier mehr Einflüsse wahr und verarbeiten diese. Wenn die Eltern eines hochsensiblen Kinds immerzu dessen Fantasie unterdrücken und es zur Rationalität aufrufen, folgt das Kind dem Ruf oft. Bei HSK, bei denen früh ein hoher IQ festgestellt wird, werden von den Eltern meist auch höhere Ergebnisse in der Schule und im Studium erwartet. Da das HSK die Erwartungen anderer gerne erfüllt, trainiert es sich die Fantasie ab und wissenschaftliche Denkprozesse an. Anders herum ist es in Familien, die kreative Aspekte fördern, wahrscheinlich, dass ihre hochsensiblen Sprösslinge ihrer kreativen Ader folgen und die rationalen Denkprozesse vernachlässigen. Daraus resultieren häufig chaotische Künstler, die ebensolche Schwierigkeiten im Leben haben wie die stark wissenschaftlich geprägten Menschen. Generell kann man sagen, dass jeder unbewusste Hochsensible in seinem Leben Schwierigkeiten hat, seinen Weg zu finden, denn die Anforderungen der Gesellschaft sind nicht für Hochsensible geschaffen, genauso wenig für geistig oder körperlich beeinträchtigte Menschen oder alle, die aus unserer künstlich geschaffenen Gesellschaftsnorm herausragen.
Für die Entwicklung der Interessen, die Ausprägung der eigenen Persönlichkeit und die Gestaltung des Lebens ist das Erwachsenen-Ich zuständig. Dank der modernen Gesellschaft kommt ihm eine herausgestellte Bedeutung zu. Der Kopf wird seit der Zeit der Aufklärung über alles andere gestellt. Nur der erwachsene, rationale und gut funktionierende Mensch hat in der Gesellschaft, die nach immer mehr Wirtschaftlichkeit und Effizienz strebt, eine reelle Chance auf ein gutes Leben. Das wird uns vorgegaukelt. Kinder sollen möglichst früh auf das Funktionieren und eine hohe Leistungsquote im späteren Berufsleben getrimmt werden. Selbst Künstler sollen am liebsten wie am Fließband produzieren. Am besten immer dasselbe, denn das ist es angeblich, was die Konsumenten wollen: Mehr desselben.
Für den Hochsensiblen ist die Übergewichtung der rationalen Ebene komplett falsch! (Eigentlich ist dies für jeden Menschen ungesund, doch das ist hier nicht das Thema.) Einzig das reibungslose und gleichgewichtete Zusammenspiel aller drei Ebenen ermöglicht uns ein gutes Leben. Die bevorzugte Behandlung des Erwachsenen-Ichs sorgt im schlimmsten Fall dafür, dass wir den Kontakt zu unseren Emotionen und auch zu unserer spirituellen Seite verlieren. Die Gedankenkreise, in denen wir festhängen, nehmen unsere gesamte Energie und Aufmerksamkeit in Beschlag. Wir denken über unsere Vergangenheit nach und was alles schief gelaufen ist. Wir denken über die Zukunft nach, was alles schief laufen könnte. Oder wir streben nach einer Zukunft, die wir uns als besser vorstellen, die aber vielleicht gar nicht unserem Wesen entspricht. Wir versuchen verzweifelt für Sicherheit und Ordnung in unserem Leben zu sorgen, in einer Welt, in der es keine Sicherheit gibt und Ordnung nicht von Dauer sein kann. Um den Kopf einmal ruhig zu bekommen, betäuben wir uns durch sinnlosen Medien‑, Drogen- oder sonstigen Konsum. Dies sorgt dafür, dass wir die Bedürfnisse des Neugeborenen-Ichs nicht wahrnehmen. Dann ignorieren wir die Fähigkeiten des Höheren-Ichs. In unserer westlichen Gesellschaft werden diese für unmöglich gehalten und in die tiefste Esoterik-Aberglaube-Schublade gesteckt. Tief in deinem Inneren fühlst du sie noch, doch du verleugnest sie. Wenn du die beiden Ichs nur lange genug unterdrückst und ignorierst, sterben sie irgendwann einmal ab und du hast niemals mehr die Chance darauf, ein gutes und erfülltes Leben zu führen. Du beginnst, die fehlenden Teile der inneren Familie durch noch mehr Konsum oder Süchte zu kompensieren und wirst unweigerlich krank.
Deswegen ist es so wichtig, dass du dich von allem für dich Unnötigen trennst und herausfindest, was du wirklich brauchst. Lass alles weg, das du angeblich so dringend für ein erfülltes Leben benötigst, was die Werbung und deine Mitmenschen dir suggerieren. Alles, was das Erwachsenen-Ich mit den Worten: »Ich will aber …« verlangt, ist nach meiner Erfahrung in Wirklichkeit hohl und schal für dich. »Ich will das neue Tablet haben, um glücklich zu sein!« »Ich will einen Thermomix, damit ich endlich gut essen kann!« »Ich will dreimal im Jahr auf Hawaii Urlaub machen, deswegen muss ich mehr arbeiten und verdienen!« Das alles sind typische Sätze des Erwachsenen-Ichs. Trenne dich von diesen Vorstellungen. Begnüge dich mit dem, was du wirklich benötigst. Vereinfache dein Leben und schmeiße alle überflüssigen Reize hinaus. Wirf über Bord, was mehr Zeit kostet, als du investieren willst. Führe nicht länger aus, was dich davon abhält, die Dinge zu tun, die dir wirklich wichtig sind. Die Genügsamkeit ist in uns eingebaut. Sicherlich erinnerst du dich an einfachere Zeiten, in denen du glücklicher warst und sehnst dich danach. Lass das Grübeln. Das tust du nur, weil du innerlich Langeweile hast. Wenn du gut auf dein Neugeborenen-Ich achtest, hat das Erwachsenen-Ich genügend zu tun, um nicht ständig grübeln zu müssen. Besonders, wenn du deinen inneren Säugling nicht nur versorgst, sondern auch darauf achtest, was er dir mitteilen will.
Beschränke dich auf das, was du wirklich brauchst, und erlange dadurch eine Freiheit, die dir ermöglicht, das zu tun, was in dir verankert ist. Dann kannst du deiner Berufung folgen und eine Zufriedenheit und ein Glück erleben, das dir nichts bieten kann, was die Gesellschaft dir einredet. Mehr dazu später im Thema »Loslassen«.
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.