Wer Vorteile im Leben hat, der hat auch Nachteile. Meistens halten sich beide Seiten die Waage.
Die meisten HSP geben an, dass sie das Gefühl haben, ein lebendigeres Innenleben zu besitzen als Normalsensible. Manche sagen sogar, dass »normale Leute nicht richtig denken können«. Das ist natürlich Quatsch. Da das Gehirn einer HSP den ganzen Tag auf Hochleistung läuft und sie immerzu über irgendetwas nachdenken, fällt es ihnen schwer zu glauben, dass es anderen Menschen anders ergeht. Das ist wohl ein grundsätzliches Problem von Hochsensiblen. Sie denken meistens, dass alle anderen genau so sind wie sie. Zumindest, bis sie jemand auf den Unterschied aufmerksam macht. Darauf reagieren sie oft überrascht oder enttäuscht, weil das bedeutet, dass sie selbst anders sind. Wer ist schon gerne anders? Natürlich spüren die meisten Hochsensiblen schon in früher Kindheit, dass sie nicht wie die übrigen Kinder sind und oft versuchen sie sich anzupassen. Diese Anpassung und der Versuch »Normal« zu sein, endet in der Unterdrückung ihrer ureigenen Bedürfnisse. Sie richten sich nach dem, was der Durchschnitt der sie umgebenden Menschen ihnen gegenüber als »normal« definieren. Der krampfhafte Versuch der Anpassung kann sich in Krankheiten oder unterschwellig gärender Unzufriedenheit manifestieren, da sich die unterdrückten Bedürfnisse unter der Oberfläche immer stärker melden.
Außerdem kommt hinzu, dass sie mehr wahrnehmen und sich gerne vorher einen Überblick über die Situation verschaffen, in der sie sich befinden. Möglichst noch, bevor sie hineingehen. Sie denken immer schon zu Beginn eines Treffens über die möglichen Verläufe und den Ausgang nach und berechnen unterbewusst die Wahrscheinlichkeiten. Hochsensible haben im Normalfall ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis und sind anfälliger für Ängste. Deswegen kalkulieren sie zu allererst die Gefahren, die auf sie und ihre Mitmenschen zukommen könnten und danach gleich einen Weg, diese zu vermeiden. Deswegen ist ihnen unklar, warum Normalsensible diese Dinge nicht haben kommen sehen. Sie besitzen eine natürliche Gabe einzuschätzen, welche Reaktion eine Aktion (Handlung) hervorbringt. Wenn du das tust, wird es funktionieren. Oder auch: Wenn du das tust, wirst du auf die Nase fallen. Diese Fähigkeit wird ihnen oft übel genommen und wirkt auf andere rechthaberisch. Dabei wollen sie nur helfen.
HSP werden oft als Besserwisser wahrgenommen. Das kommt daher, dass sie sich mit den Themen, die ihr Interesse wecken, in extremem Umfang detailliert auseinandersetzen. Dabei sind sie sehr gründlich. Diese Eigenschaft teilen sie mit Menschen mit dem Asperger Syndrom. Durch ihre Serviceorientierung wollen sie dieses Wissen gern mit anderen teilen, da geteiltes Wissen erfahrungsgemäß der gesamten Spezies bei der Entwicklung weiterhilft.
Hochsensible gelangen schneller an ihre Belastungsgrenze. Jüngere HSP überschreiten diese gern und überreizen sich regelmäßig auch über längere Zeiträume hinweg. Sie setzen sich gern großen Menschenmassen aus, am liebsten betrunken. Manche greifen auf Drogen aller Art zurück, um ihren Gedankenstrom zu betäuben. Andere stürzen sich in Arbeit und leisten diese für zwei. Wenn sie endlich herausgefunden haben, dass sie hochsensible Menschen sind, finden meistens größere Veränderungen im eigenen Leben statt. Die älteren HSP legen sich eine reizärmere Umgebung und Lebensart zu, suchen sich neue Freundeskreise und wählen einen ruhigeren Wohnort. Viele Hochsensible sondern sich mit zunehmendem Alter mehr von der Gesellschaft ab, da sie die selbstzerstörerische Ausrichtung nicht verstehen und das oberflächliche Streben nach Materiellem nicht teilen. Oft geschieht dies auch, da sie viel Ablehnung auf Grund ihrer besonderen Wahrnehmung und den daraus resultierenden Ansichten erfahren haben und mit Normalsensiblen nichts mehr zu tun haben wollen.
Wenn Hochsensible sich vollkommen nach ihren Bedürfnissen richten, kommen sie ebenso lange mit den Energien aus wie Normalsensible. Sie benötigen öfter kleine Pausen über den Tag verteilt, in denen sie sich dem Input der Außenwelt entziehen und erst einmal die gesammelten Eindrücke verarbeiten. Körperlich können HSP sowieso genau das Gleiche leisten wie Normalsensible. Manche Hochsensible härten sich extra ab, damit sie sich nicht immer anhören müssen, dass sie sich nicht so anstellen sollen. Abhärtung hat aber auch viel mit Verdrängung von Schmerzen, Gefühlen und Reizen zu tun, was zusätzlichen Energieaufwand bedeutet.
Leider ist es noch nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert, dass es Hochsensible gibt, obwohl bereits im alten China vor viertausend Jahren die weisen Menschen eine Sonderstellung hatten. Dies waren Hochsensible, genauso die meisten Künstler. Man ermöglichte es ihnen, ein sorgenfreies Leben zu führen und entband sie von Alltagspflichten. Dafür bekam man gute Ratschläge, wunderschöne Kunstwerke und erstklassige Unterhaltung. Heutzutage sind HSP gezwungen, einen stressigen Arbeitsalltag zu meistern, der nicht für sie geschaffen ist. Sie verbiegen sich, um den Tag irgendwie zu überstehen und sind am Nachmittag bereits so erschöpft, dass sie kaum noch etwas zu Stande bringen. Viele Hochsensible, die das über Jahre mitmachen, sind auf dem Weg in eine Depression, (z. B. Burnout) oder zu einem Nervenzusammenbruch, sind daran knapp vorbeigeschrammt oder haben es bereits hinter sich. HSP, die auf die Arbeitsmühle nicht angewiesen sind, oder deren Arbeitgeber ihnen ein flexibles Zeitmanagement zur Verfügung stellen, vollbringen wahre Wunder. Die meisten HSP sind sehr kreativ in der Erledigung ihrer Aufgaben, solange man sie machen lässt, wie sie es für richtig halten. Sie fühlen sich von innen heraus verpflichtet, ordentliche Arbeit abzugeben. Sie erledigen Aufgaben richtig oder gar nicht. Allerdings werden sie nicht gerne kontrolliert, da dies Schuldgefühle in ihnen weckt, die sie aus der Kindheit mitschleppen. Diese Schuldgefühle haben nichts mit der aktuellen Situation gegenüber dem Kontrollierenden zu tun.
Die Belastungsgrenze ist auch unter HSP verschieden. Der eine nimmt nicht ganz so viel wahr wie der andere oder das Gehirn wieder eines anderen ist nicht ganz so leistungsfähig. Außerdem spielt das Alter eine Rolle, denn mit zunehmendem Alter sinkt die zur Verfügung stehende Energie pro Tag und die Regenerationszeit wird länger. Deswegen kann nur jeder für sich selbst feststellen, wo seine Grenzen liegen.
Beispiele, womit wir schnell an unsere Belastungsgrenze getrieben werden:
Die meisten HSP mögen keine größeren Menschenansammlungen, zumindest nicht im nüchternen Zustand. Wenn man bedenkt, dass sie jeden Menschen, der für mehr als einige Sekundenbruchteile in ihr Blickfeld gerät, immer unterbewusst und auch manchmal bewusst einschätzen, kann sich jeder vorstellen, wie das bei hundert oder sogar hunderten von Menschen sein muss. In einer Fußgängerzone oder Passage an einem Samstagnachmittag fühlen sich einige Hochsensible bereits nach zehn bis fünfzehn Minuten schier überfordert. Nach einer Stunde ist es für viele die Hölle. Deswegen statten sie sich in solchen Situationen gern mit Kopfhörern und ihnen bekannter Musik aus. So ersetzen sie zumindest die unbekannte Geräuschkulisse mit einer bekannten, die sie beruhigt. Darum sind HSP in fortgeschrittenem Alter jenseits der Zwanziger auch so gern allein, zu zweit oder maximal in einer Kleingruppe unterwegs. Am liebsten irgendwo in der Natur, wo sich nicht so viele andere Menschen bewegen.
HSP stehen Arbeit im Grundsatz sehr positiv gegenüber und sind sich nicht zu schade, auch »niedere« Tätigkeiten (die meistens sogar die wichtigsten sind) zu verrichten. Allerdings am liebsten eine nach der anderen. Wenn sie gezwungen sind, viele Aufgaben in kurzer Zeit zu lösen, die alle unterschiedliche Themen behandeln, sind sie oft schnell überfordert. Leider ist diese Arbeitsweise in vielen Berufen üblich. Eine Zeit lang kann ein HSP das mitmachen, aber dann benötigt er doch eine längere Ruhepause. Abhilfe schafft das Erstellen von Prioritätslisten und das Abarbeiten der anfallenden Tätigkeiten nacheinander. Aufschreiben ist sehr gut für HSP, denn was man aufschreibt, kann aus dem Gedankenkarussell verschwinden.
Eine laute Umgebung ist für viele HSP furchtbar anstrengend, da sie die Hintergrundgeräusche nicht herausfiltern können. Sie hören dann beinahe alles gleich laut und intensiv. Am schlimmsten sind ungleichmäßige Hintergrundgeräusche im hohen bis mittleren Frequenzbereich. Wenn lautes Rauschen auftritt und ein Hochsensibler sich mit jemandem unterhält, der genau vor ihm steht, muss er sich sehr auf sein Gegenüber konzentrieren, damit er alles Gesagte von ihm mitbekommt. Schon nach wenigen Minuten kann er total genervt sein. Er versteht dann oft einzelne Worte nicht, weil ihre Frequenz sich mit der des Rauschens überschneidet. Bei einigen HSP erzeugt Lärm sogar körperliches Unwohlsein.
Bei sehr emotionalen Menschen oder in emotionalen Umgebungen können HSP schnell überfordert werden. Gerade, wenn sie selbst sehr emotionale Menschen sind und eine ausgeprägte empathische Fähigkeit besitzen. Die Emotionen anderer Menschen müssen sie ebenfalls mit verarbeiten. Dabei ist es belanglos, ob es sich um eine gute oder schlechte Emotion handelt. Emotionen anderer Menschen werden anstrengender, je deutlicher sie zu Tage treten oder wenn sie sich durch mehrere Menschen addieren.
Stellen Sie sich unter den Umständen mal einen HSP in einem Fußballstadion genau zwischen den Fanblocks der beiden Mannschaften vor. Sehr laute Umgebung angefüllt mit tausenden von Menschen, vielen emotionalen Reaktionen, abwechselnd Freude, Ärger und Frust, je nachdem, wessen Mannschaft führt. Trotzdem tun sich das viele HSP an und sind nachher froh, wenn alles vorbei ist und sie sich am Sonntag ausruhen können. Wetten, an diesen Sonntagen liegt dann nicht viel an?
<Nachteile der Hochsensibilität | Der Test von Dr. Elaine Aron> |
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Ich bitte Sie, das Vorwort und das Kapitel Selbstentwicklung zu lesen, bevor Sie fortfahren.