Wie so vieles im Leben eines oder einer Hochsensiblen besteht auch in so elementaren Bereichen wie den Grundbedürfnissen ein Unterschied zu Normalsensiblen. Fangen wir zunächst einmal mit dem grundsätzlichsten Bedürfnis an: dem Schlaf. Die Wissenschaft und auch jahrhundertelange Erfahrung in der Familie haben festgestellt, dass der gesündeste Schlaf nachts stattfindet, und zwar 7 – 10 Stunden am Stück. Die Länge variiert nach Lebensalter und Energielevel der jeweiligen Person. Neuere Studien haben dies widerlegt, doch diese sind noch nicht im Bewusstsein der Allgemeinheit angekommen.
Im Abschnitt »Die Innere Familie« bin ich darauf eingegangen, dass wir Hochsensiblen drei ausgeprägte Persönlichkeiten in uns tragen, durch die wir mehr wahrnehmen als Normalsensible. Das liegt an unserer Gesamtwahrnehmung: Während bei Normalsensiblen das innere Kind sich während der Entwicklung des Körpers auch weiterentwickelt hat, vermutet man, dass es bei uns aus unbekannten Gründen auf dem Level eines Neugeborenen geblieben ist. Das ist nicht nur ein Nachteil, sondern gleichzeitig ein Vorteil für uns. Gerade das ermöglicht es uns, so sensitiv zu sein und mit unserem Ganzen achtsamer umzugehen. Das Neugeborenen-Ich ist unsere Verbindung zur sensiblen Gefühlswelt. Nun braucht so ein Neugeborenes viel mehr Beachtung und Schutz als ein größeres Kind. Außerdem hat es ganz andere Bedürfnisse. Zum Beispiel ist der Schlaf-Wach-Rhythmus eines Babys nicht darauf ausgelegt, dass es über viele Stunden schläft oder wach ist. Es schläft meist eine längere Periode am Stück und dann noch mehrere kurze über den Tag verteilt.
In der Psychologie und im Umgangssprachlichen unterteilt man die Schläfer allgemein in Lärchen (Frühaufsteher) und Eulen (Spät-ins-Bett-Geher).
Ich dachte früher, ich sei eine Eule, die die Nacht durchwacht, und könne morgens am besten lange schlafen. Das wurde eine Zeit lang leider durch meinen Beruf verhindert, wo ich spätestens um 7 Uhr pünktlich erscheinen musste. Lange vermutete ich, dies sei der Auslöser für ein Jahrzehnt der Schlafstörungen gewesen. Doch in Wirklichkeit bin ich einfach keine Eule. In der Zeit, als ich mich noch gerne überfordert habe, um mit den Normalsensiblen mithalten zu können, blieb ich so lange wach, bis ich vor Erschöpfung einschlief – bis ich meine Augen nicht mehr offen halten konnte. Der Zeitpunkt der normal einsetzenden Müdigkeit war an diesem Punkt schon um Stunden überschritten. Ich fiel in eine Art Komaschlaf oder »schlief wie ein Stein«. Ein paar Stunden später war ich bereits wieder wach. Nach 5 bis 6 Stunden Schlaf konnte ich einfach nicht mehr schlafen, obwohl ich noch hundemüde war. Ich fühlte mich überhaupt nicht erholt. Dann kamen irgendwann Probleme beim Einschlafen hinzu und zeitweise schlief ich nur 3 – 4 Stunden pro Nacht über Jahre hinweg. Tagsüber fühlte ich mich energielos und schlapp, stellte aber immer noch den Anspruch an mich selbst, genauso gut zu funktionieren wie alle anderen. Ich wollte mir keine Schwäche nachsagen lassen. Nach und nach probierte ich verschiedene Dinge aus, von denen ich erfuhr, dass sie Schlaf fördernd sein sollten: Ernährungsumstellung, bestimmte Lebensmittel und Getränke vor dem Schlaf vermeiden, nach 18 Uhr nichts mehr essen, Entspannungs- und Atemübungen vor dem Schlafen, einfach früh zu Bett gehen und dort bleiben bis am nächsten Morgen um 6, egal was geschieht. Nichts half effektiv. Meine Gedanken kreisten wie ein Karussell und ich konnte einfach nicht schlafen.
Kein Wunder, da ich hoffnungslos überreizt war – dauerhaft. Eine unbewusste Umstellung meiner Lebensumstände auf ein reizärmeres Umfeld brachte unerwartet Besserung. Ich kaufte mir ein Haus. Seitdem gab es keine schlafstörenden Nachbarn mehr, die ungehemmt nachts lärmten. Ich verbrachte weniger Zeit bei Freunden und mit ihnen unterwegs, dafür mehr auf der Couch mit Entspannung. Faulenzen. Endlich mal nichts tun. Doch der wirkliche Durchbruch kam erst, als ich das Konzept der Inneren Familie kennen gelernt hatte. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, dass ich als Kind und Jugendlicher – »als ich es noch durfte« – immer tagsüber nochmal geschlafen hatte. Denn mein eigentlicher Schlafrhythmus ist wie folgt: Zwischen 21 und 23 Uhr zu Bett gehen, zwischen 4 und 5 Uhr nach ca. 6 Stunden Schlaf aufstehen, Mittags eine Mittagsstunde machen, nachmittags nochmal 30 – 40 Minuten für ein Nickerchen auf die Couch legen. Somit komme ich auf meine knapp acht Stunden Schlaf. Wenn ich mittags keine Gelegenheit habe zu schlafen, gehe ich bei gutem Wetter hinaus mit beruhigender Musik auf den Ohren und genieße die Sonne. Bei schlechtem Wetter setze ich mich in mein Büro und mache wenigstens für 20 Minuten mal die Augen zu und döse vor mich hin. Das Wichtigste, das ich jedoch seitdem tue: Ich stelle mir keinen Wecker mehr und höre genau in mich hinein, wie müde ich bin.
Der Wecker ist eine fiese Erfindung, die dich psychologisch davon abhält, deinen eigenen Schlafrhythmus durchzuziehen. Wenn du vor dem Wecker wach wirst, denkst du automatisch darüber nach, dass es ja noch Zeit bis zum Aufstehen ist. Du könntest eigentlich noch ein Weilchen schlummern. Es wäre doch Verschwendung, vorher aufzustehen. Die Zeit zwischen Aufwachen und Aufstehen, die du Schlummern nennst, macht dich wieder müde. Du bist dann nicht wirklich energiegeladen und ausgeschlafen, wenn der Wecker klingelt. Andererseits schreckst du aus dem Schlaf, wenn er klingelt, und du nicht vorher wach warst. Du versetzt dich automatisch psychisch in einen Alarmzustand. Selbst wenn dir dies jetzt nicht unbedingt bewusst ist, wirst du es feststellen, sobald du dich traust, keinen Wecker mehr zu benutzen. Tricks, wie trotzdem noch einen ganz späten Wecker zur Sicherheit stellen, funktionieren nicht. Du kannst dich nicht selbst austricksen. Das klappt bei uns Hochsensiblen nicht. Dein Körper wird dich zur rechten Zeit wecken. Probiere es doch einfach mal im Urlaub oder an Wochenenden aus, wenn du dir nicht selbst vertraust.
Wenn du dich fragst, was du so früh am Morgen sollst, dann frage dich, was deine eigentliche Berufung ist (falls du sie nicht schon gefunden hast), und führe diese vor deiner eigentlichen Arbeit (deinem Brotjob) aus. Sei kreativ. Dank Streaming-Lösungen wie Mediatheken, Netflix oder Amazon Prime kannst du auch morgens im TV schauen, was du gern sehen willst. Oder erledige schon mal die Hausarbeit. Du wirst sehen, dass du ganz anders motiviert in den Tag startest als bisher.
Bei der Ernährung ist es ganz ähnlich. Genauso, wie der Schlafrhythmus, ist der Ernährungsrhythmus wie bei einem Neugeborenen. Ich habe mich jahrzehntelang nach dem gängigen Drei-Mahlzeiten-System gerichtet. Dabei hatte ich entweder furchtbaren Hunger zwischendurch oder spätestens zu den Hauptmahlzeiten Heißhunger. Beides ist nicht gut. Bei Hochsensiblen stellt man häufig fest, dass sie bereits mehrere Ernährungsformen ausprobiert haben. Viele gehen mit fortgeschrittenem Alter sehr sensibel mit dem Thema Ernährung um. Vollwertprodukte, viel Gemüse und Früchte, Bio, vegetarisch und vegan, ohne Weizen, mit wenig Zucker oder Milch, jeder hat da so seine Präferenzen entdeckt. Was die wenigsten jedoch erkannt haben, ist die Tatsache, dass das Standard-Mahlzeitenmodell nicht für sie funktioniert.
Bei mir war es so, dass ich bereits mehrere Ernährungsarten erfolglos getestet habe. Vollwert mit hohem Ballaststoffanteil, wenig Fleisch, viel Fisch, Trennkost, low fat, low carb. Nichts war wirklich richtig für mich. Nachdem ich nun das Innere-Familien-Konzept beherzige, esse ich zirka 6 – 8‑mal am Tag. Dafür kleinere Mengen und ausgewogen. Mittlerweile fleischfrei, das jedoch aus ethischen Gründen. Seither kenne ich das Heißhungergefühl nicht mehr und auch das Gefühl des Zu-viel-Essens wird weniger. Man darf nicht erwarten, dass man alte Gewohnheiten sofort ablegen kann. Doch es wird mit der Zeit alles besser.
Höre einfach mehr in dich hinein. Höre ganz auf dein Neugeborenen-Ich, was deine Grundbedürfnisse angeht. Ignoriere die Maßstäbe, die propagiert werden. Die gelten nicht für dich. Orientiere dich nicht am Schlafverhalten der »anderen« 80 Prozent der Menschheit und schlafe, wie du es willst, auch wenn andere dir nachsagen, du verhieltest dich wie ein alter Mensch oder ein Baby. Was andere denken ist vollkommen unerheblich. Sie leben schließlich nicht in deinem Körper.
Genauso solltest du beim Essen darauf hören, wann du Hunger hast und wie viel du wirklich essen willst. Lass dir nicht von anderen vorschreiben, was und wie viel gesund für dich ist. Das weißt du selbst am besten, solange du deine Wahrnehmung auf dich richtest.
Beim Trinken ist es ebenso. Trinke mehr und öfter als der Normalsensible. Deine Nerven werden es dir danken. Du musst viel mehr verarbeiten als der Normalsensible. Für diese Verarbeitung brauchen Hirn und Nerven viel Sauerstoff. Viel Trinken hilft dabei, die Nieren durchzuspülen und gesunde Nieren reinigen das Blut besser. Somit stehen dir mehr Leistungsreserven zur Verfügung, wenn du mehr trinkst. Seit ich auf kohlensäurefreies Wasser, Tee und Säfte umgestiegen bin, kann ich mehr trinken und mein Bauch ist nicht so voller Gase. Mit diesen wenigen Tipps habe ich eine ungleich höhere Lebensqualität erzielt.
<Überreizt und nun? | Sexualität und Sensibilität> |
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